Rhythmische Erziehung

Rhythmische Erziehung

Rhythmische Erziehung (auch Rhythmische Gymnastik, motorisch-musikalische Elementarlehre), wurde von Emile Jaques-Dalcroze begründet und von Gertrud Grunow, Carl Orff sowie Alexander Sutherland Neill weitergeführt.

Inhaltsverzeichnis

Die Methode Jaques-Dalcroze (MJD)

Jede Bewegung benötigt Raum, Zeit und, als elementarstes Mittel zur Ausführung, den eigenen Körper (Kraft). Diese Elemente (Raum, Zeit und Kraft) sind die Gesichtspunkte, unter denen Bewegung zu betrachten ist. Weiterhin sind es exakt diese Kriterien, die eine bloße Bewegung zu einer künstlerischen Leistung erhebt. Im "Raum" wird der Sinn für die "plastische Bewegung" entwickelt, durch die Regelung der Zeit erhebt sich der Sinn für den "musikalischen "Rhythmus". Musik war für Jaques-Dalcroze deshalb unentbehrlich, weil sie einerseits eine wirklich genaue Einteilung der Zeit ermöglichen und andererseits unmittelbar in das menschliche Nervenzentrum eindringen kann, um Befehle ebenfalls unmittelbar durch und für den eigenen, sich bewegenden, Körper auszuführen. Praktische Beispiele dazu finden sich im Marsch der Soldaten, bei Bewegungen von Turnen, Ruderern oder beim Verrichten von verschiedenen Arbeiten (im Takt). Bewegungskunst im Raum ist also nur möglich bei der Fähigkeit, eine Bewegungsgliederung in der Zeit in sich aufzunehmen. Durch das Hinzukommen der Kraft, die ja dynamisch ist, entwickelt sich die „musikalische Dynamik“. Zwischen allen Entwicklungen musikalischer und körperlicher Formengestaltung existieren Parallelbeziehungen.

Die rhythmische Gymnastik erzieht zwei Bereiche maßgeblich: erstens das Muskel- und Nervensystem, so dass es zur Ausführung jeder rhythmischen Bewegung fähig ist und zweitens das Ohr, so dass es zur Aufnahmefähigkeit für Musik geschult wird. Diese beiden Stufen stellen die Eroberung der Elemente dar. Das Ziel der rhythmischen Gymnastik besteht darin, diese Elemente so einsetzen zu können, dass eine plastische Realisation von Musik und ein musikalischer Ausdruck (künstlerischer Ausdruck) einer körperlichen Bewegung geschieht. Die letztere Eigenschaft, aus musikalischen Elementen ein zeitliches Bewegungsgebilde gestalten zu können, führt zur Kenntnis und Umsetzung, musikalisch zu improvisieren.

Die methodischen Grundlagen der Rhythmische Erziehung halten Aufsätze von 1898-1919 fest (Emile Jaques-Dalcroze, Rhythmus, Musik und Erziehung, übersetzt von Julius Schwabe 1920): Um vollmusikalisch zu sein, muss ein Kind zugleich eine Vielheit von Kräften und Eigenschaften besitzen. Diese sind einerseits: Gehör, Stimme und Tonbewusstsein, und andererseits: der gesamte Körper (resonierendes Knochengerüste, Muskeln, Nerven) und das Bewusstsein des körperlichen Rhythmus. (1907)

Der dem Tänzer Alexander Sacharoff gewidmete Aufsatz "Die Wiedergeburt des Tanzes" (1912) gehört mit zu den Grundlagen des Expressionistischen Bühnentanzes: Der Tanz ist die Kunst, Gefühle mit Hilfe rhythmischer Körperbewegungen auszudrücken.

Diese Weiterentwicklung führt zur bewegten Plastik (1919), der Einbindung von Ausdrucksbewegungen in den Raum mit nachhaltiger Wirkung auf Architektur und bildnerische Plastik (Georg Kolbe).

Bildungsanstalt Hellerau

Institutionalisiert wurde die Rhythmische Erziehung April 1911 durch die Gründung der dann von Heinrich Tessenow gebauten Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden (Eröffnung Oktober 1912):

Die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze hat den Zweck, musikalische Menschen zu erziehen. Den musikalischen Unterricht will sie nach der Seite der Charakterbildung vertiefen.

Gründungsdirektor war Wolf Dohrn im Zusammenwirken mit Nina Gorter. Zweigstellen gab es in Dresden (1911), Berlin (1911), Frankfurt (1912), Sankt Petersburg (1912) und Moskau (1912).

Um den Missbrauch der Methode zu vermeiden, wurden die Lehrkräfte diplomiert als Lehrer der Rhythmischen Gymnastik nach Jaques-Dalcroze (§ 14 der Schulordnung).

Die Prüfung bestand aus:

  • Einer Lehrstunde Rhythmische Gymnastik an Kindern ohne musikalische Vorbildung
  • Einer Lehrstunde Rhythmische Gymnastik an Fortgeschrittenen
  • Hör- und Leseübungen (Solfège)
  • Rhythmische und plastische Verkörperung der Musik.

Die Schule meldete 1915 Konkurs an. Die Ziele setzte der "Verein für rhythmisch musikalische Erziehung Hellerau" fort.

Neue Schule Hellerau

Nach fehlgeschlagenen Beteiligungs-Verhandlungen seit 1921 übernahmen Alexander Sutherland Neill, seine spätere Ehefrau Lilian Neustätter sowie die Leiterin der Rhythmikabteilung, Christine Baer-Frissell (und andere) 1922 das in Finanzschwierigkeiten befindliche (eng an Paul Geheebs Odenwaldschule orientierte) Landerziehungsheim "Neue Schule Hellerau". Neill leitete die Ausländerabteilung und das Schulheim (und nennt beides - auch im Schulprospekt - stets die "Internationale Schule").

In diesem Konzept wurde der musikalische Unterricht nach der Seite der Charakterbildung vertieft.

Heutige Anwendung

Eine Ausbildung zum Rhythmiklehrer oder zum Rhythmiker ist an Musikhochschulen, Konservatorien und Universitäten möglich und wird mit einem Bachelor abgeschlossen. Das Studium setzt eine bestandene Aufnahmeprüfung im Hauptfach, im Instrument und in den Fächern Gehörbildung und Satzlehre/Musiktheorie voraus. Vielerorts werden darüber hinaus Masterstudiengänge mit künstlerischem oder pädagogischen Schwerpunkt aus dem Gesamtfeld Musik und Bewegung angeboten. Das Arbeitsfeld bietet sehr umfangreiche Möglichkeiten. Rhythmiker bzw. Musik- und Bewegungspädagogen arbeiten an Musikschulen mit Kindern ab einem Jahr, in Kindergärten und Schulen,in der Erwachsenenbildung, an Erzieherschulen, als Choreographen, in den Bereichen Theater, Tanz, Musiktheater und Performance oder in der Gerontologie sowie mit Menschen mit Behinderungen. Eine Festeinstellung an einer Institution ist selten, durch das zumeist selbstständige Arbeiten ist jedoch ein vielfältiges und persönlich abgestimmtes Berufsleben möglich.

Siehe auch

Literatur

  • Kamp, Johannes Martin: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Opladen: Leske+Budrich 1995 (zugleich Universität Essen: diss. phil. 1994), ISBN 3-8100-1357-9. Kapitel 17: Neills Schulgründung in Dresden (S.329-376).
  • Edleditsch, Helga: Entdeckungsreise Rhythmik. Don Bosco, München 1998.
  • Frohne, Isabelle: Das Rhythmische Prinzip. Eres, Lilienthal/ Bremen 1981.
  • Hirler, Sabine: Mit Rhythmik durch die Jahreszeiten. Herder, Freiburg 2004.
  • Hirler, Sabine: Kinder brauchen Musik, Spiel und Tanz. Ökotopia, Münster 1998.
  • Hirler, Sabine: Wahrnehmungsförderung durch Rhythmik und Musik. Herder, Freiburg 2003.
  • Mahlert, Ulrich: "Identität und Offenheit – Überlegungen zur Klärung des Faches Rhythmik". In: Üben & Musizieren, 1/2000, S. 17.
  • Neira Zugasti, Helga: "Der elementarmusikerzieherische Aspekt der Rhythmik; Beobachtung, Analyse und Dokumentation von Unterrichtssituationen aus entwicklungspsychologischer Sicht". In: Rhythmik, 06/ 2002, Nr. 1.
  • Ring, Reinhard: Rhythmik - die musikalische Bewegung. Solingen 1990.
  • Ring, Reinhard/ Steinmann, Brigitte: Lexikon der Rhythmik. Gustav Bosse, Kassel 1997.
  • Schäfer, Gudrun: Rhythmik als interaktionspädagogisches Konzept. Waldkauz Verlag, Remscheid 1992.
  • Vogel-Steinmann, Brigitte (1979). Was ist Rhythmik? Analyse und Bestimmung der rhythmisch-musikalischen Erziehung. Gustav Bosse, Regensburg 1979.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • rhythmische Erziehung — rhỵthmische Erziehung,   Form der Musik und Bewegungserziehung, bei der musikalische Elemente (Melodie, Rhythmus, Ausdruck) in Bewegung umgesetzt werden. Die rhythmische Erziehung ist ein Gebiet der Elementarlehre der Musik, wie sie von der… …   Universal-Lexikon

  • Rhythmische Gymnastik — Der Begriff Rhythmische Gymnastik bezeichnet einen Bestandteil der Rhythmischen Erziehung die Sportart Rhythmische Sportgymnastik Diese Seite ist eine Begriffsklärung zur Unterscheidung mehrerer mit demselben Wort bezeichneter Beg …   Deutsch Wikipedia

  • Rhythmisch-musikalische Erziehung — Rhythmisch musikalische Erziehung, oder in Kurzform Rhythmik genannt, ist eine künstlerisch pädagogische Disziplin. Zentraler Inhalt der Rhythmik ist die Wechselwirkung zwischen Musik und Bewegung. Inhaltsverzeichnis 1 Entwicklung 2 Pädagogische… …   Deutsch Wikipedia

  • musische Erziehung — musische Erziehung,   die Erziehung auf der Grundlage der Künste, d. h. von Dichtkunst, Musik, Tanz/Gymnastik und bildender Kunst; sie ging aus den pädagogischen Reformbestrebungen der Jahrhundertwende hervor, zu nennen sind… …   Universal-Lexikon

  • Charlotte Pfeffer — Charlotte Anna Pfeffer (* 29. Oktober 1881 in Berlin; † 24. August 1970 in Freiburg im Breisgau) war eine deutsche Rhythmikerin. Sie führte die Fachbezeichnungen Psychomotorische Erziehung, Psychomotorische Heilerziehung und Psychomotorik ein.… …   Deutsch Wikipedia

  • Elfriede Feudel — Elfriede Antonie Feudel (* 30. Oktober 1881 in Stargard in Pommern; † 30. März 1966 in Freiburg im Breisgau) war eine deutsche Wegbereiterin der Rhythmik, als eine Methode der Körpererziehung, die sich ganzheitlich auf alle Dimensionen des… …   Deutsch Wikipedia

  • Emil Jaques-Dalcroze — Emile Jaques Dalcroze (* 6. Juli 1865 in Wien; † 1. Juli 1950 in Genf), war ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge. Jaques Dalcroze, mitunter auch (falsch) Jacques Dalcroze geschrieben, gilt als der Begründer der rhythmisch musikalischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Emile Jaques-Dalcroze — (* 6. Juli 1865 in Wien; † 1. Juli 1950 in Genf), war ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge. Jaques Dalcroze, mitunter auch (falsch) Jacques Dalcroze geschrieben, gilt als der Begründer der rhythmisch musikalischen Erziehung. Dalcroze war… …   Deutsch Wikipedia

  • Jaques-Dalcroze — Emile Jaques Dalcroze (* 6. Juli 1865 in Wien; † 1. Juli 1950 in Genf), war ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge. Jaques Dalcroze, mitunter auch (falsch) Jacques Dalcroze geschrieben, gilt als der Begründer der rhythmisch musikalischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Methode Jaques-Dalcroze — Emile Jaques Dalcroze (* 6. Juli 1865 in Wien; † 1. Juli 1950 in Genf), war ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge. Jaques Dalcroze, mitunter auch (falsch) Jacques Dalcroze geschrieben, gilt als der Begründer der rhythmisch musikalischen… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”