Sein und Zeit

Sein und Zeit
Titelblatt der Einzelausgabe im Max Niemeyer Verlag.

Sein und Zeit ist das Hauptwerk der frühen Philosophie von Martin Heidegger (1889–1976). Es erschien 1927 und war ein epochemachendes Werk der Philosophie im 20. Jahrhundert.

Heidegger versucht in ihm, die philosophische Lehre vom Sein, die Ontologie, auf ein neues Fundament zu stellen. Hierzu vereint er zunächst unterschiedliche methodische Strömungen seiner Zeit, um dann mit ihnen sukzessive die traditionellen philosophischen Auffassungen als verfehlt zu erweisen (zu „destruieren“). Die philosophischen Vorurteile prägen nach Heidegger nicht nur die gesamte abendländische Geistesgeschichte, sondern bestimmen auch das alltägliche Selbst- und Weltverständnis.

Das Werk, das häufig als SZ, seltener SuZ abgekürzt wird, gilt als Anstoß der modernen Hermeneutik und Existenzphilosophie und prägt bis heute die internationale philosophische Diskussion. Es ist grundlegend für ein Verständnis der Hauptwerke von Philosophen wie Jean-Paul Sartre, Hans-Georg Gadamer, Hans Jonas, Karl Löwith, Herbert Marcuse und Hannah Arendt. Einflüsse und Anreize empfingen außerdem die Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas und die japanische Kyōto-Schule. In der Psychologie griffen Ludwig Binswanger und Medard Boss Ideen auf, in der Psychoanalyse Jacques Lacan. Der französische Strukturalismus und Poststrukturalismus sowie Dekonstruktion und Postmoderne verdanken Heidegger entscheidende Anregungen.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Thema

Heideggers Hütte in Todtnauberg, wo „Sein und Zeit“ geschrieben wurde.

Thema der Untersuchung ist die „Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt“. Heidegger fragt einerseits nach dem „Sein“, also dem was ist. Wenn er zugleich nach dessen Sinn fragt, dann bedeutet dies, dass die Welt keine formlose Masse ist, sondern es in ihr sinnhafte Bezüge zwischen einzelnem Seienden gibt. Das Sein besitzt in seiner Mannigfaltigkeit eine gewisse Einheitlichkeit.[1] Alles, was ist, scheint gewissermaßen durch solche sinnhaften Bezüge strukturiert und in seinem Sein bestimmt zu sein. So gibt es beispielsweise einen Bezug zwischen Hammer und Nagel und dem Menschen, der diese Dinge für seine Zwecke benutzt. Mit der „Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt“ zielt Heidegger nun darauf ab, die allen einzelnen sinnhaften Bezügen des täglichen Lebens zugrundeliegenden Grundbeziehungen freizulegen. Die Frage ist also nicht einfach gleichbedeutend mit der Frage nach „dem Sinn des Lebens.“ Auch unterscheidet sie sich von der Frage nach einem (letzten) Seinsgrund („Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“)

Zwar hat die abendländische Philosophie, so Heidegger, in ihrer Tradition verschiedene Antworten darauf gegeben, was sie unter „Sein“ versteht, sie hat die Seinsfrage jedoch nie so gestellt, dass sie dem Sinn des Seins nachfragte, also die dem Sein eingeschriebenen Beziehungen untersuchte. Heidegger kritisiert am bisherigen Verständnis, dass Sein stets wie etwas einzelnes Seiendes, etwas Vorhandenes beschrieben worden sei. Die bloße Vorhandenheit lässt jedoch noch keine Bezüge verstehen: Allein durch die Feststellung dass etwas ist, lässt sich nicht verstehen was etwas ist. Nimmt man den Hammer bloß als vorhandenes Stück Holz und Eisen, lässt sich von hier aus noch nicht sein Bezug zum Nagel verstehen.

Diese Verfehlung der philosophischen Tradition liegt für Heidegger vor allem darin begründet, dass bei einer Vorstellung des Seins als etwas Vorhandenem der Bezug zur Zeit vollkommen außer acht gelassen wird. Bei einer Bestimmung des Seins als beispielsweise Substanz oder Materie, wird das Sein nur in Bezug auf die Gegenwart vorgestellt: Das Vorhandene ist gegenwärtig, jedoch ohne dass es Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft hätte. Heidegger möchte im Verlauf der Untersuchung zeigen, dass hingegen die Zeit eine wesentliche Bedingung für ein Verständnis des Seins ist, da sie – vereinfacht gesagt – einen Verständnishorizont darstellt, auf dessen Grundlage die Dinge in der Welt erst sinnhafte Bezüge zwischen einander ausbilden können. So dient beispielsweise der Hammer dazu, Nägel in Bretter zu schlagen, um ein Haus zu bauen, welches dem Menschen zukünftig Schutz vor kommenden Unwettern bietet. Es lässt sich also nur im Bezug zum Menschen und im Gesamtzusammenhang einer zeitlich strukturierten Welt verstehen, was der Hammer außer einem vorhandenen Stück Holz und Eisen ist.

Diese Nichtbeachtung der Zeit für das Verständnis des Seins, möchte Heidegger in „Sein und Zeit“ berichtigen, woraus sich der Titel des Werks erklärt. Dabei geht es Heidegger nicht allein um eine Korrektur der Philosophiegeschichte: Die Verfehlungen in der Philosophie sind vielmehr für das abendländische Denken allgemein auszeichnend, weshalb Heidegger mit seiner Untersuchung auch zu einem neuen Selbstverständnis des Menschen gelangen möchte.

Das Denken muss hierfür auf neue Grundlagen gestellt werden. Wenn als Fundament all dessen, was ist, aus genannten Gründen nicht mehr die Materie angenommen werden kann (wie es etwa der Materialismus tut), dann muss Heidegger für seine Seinslehre (Ontologie) ein neues Fundament finden. Wegen dieses Vorhabens nennt er seinen in „Sein und Zeit“ vorgestellten Ansatz auch Fundamentalontologie: In „Sein und Zeit“ soll also die Ontologie auf ein neues Fundament gestellt werden. Auch wenn Heidegger später von seinem hier gewählten Ansatz abrückt, bestimmt die Klärung eines ursprünglichen Sinns von Sein Heideggers Lebenswerk weit über „Sein und Zeit“ hinaus.

Entstehung

„Sein und Zeit“ wurde unter Zeitdruck abgefasst. Heidegger war seit 1923 als außerordentlicher Professor in Marburg tätig, hatte jedoch seit fast zehn Jahren nichts mehr veröffentlicht. Wenn er auf einen Ruf nach Freiburg hoffen wollte, musste er etwas vorlegen. Dazu verdichtete er das in seiner Lehrzeit geschaffene Material und ordnete es systematisch. Im Rahmen der seit 1975 erscheinenden Heidegger-Gesamtausgabe lässt sich der Weg, der zu „Sein und Zeit“ führte, sehr gut nachvollziehen. Es zeigt sich hier, wie Jahre der Vorarbeit in „Sein und Zeit“ eingehen. Auch die Vorlesung „Grundprobleme der Phänomenologie“ von 1927 nimmt viele Ideen in anderer Form vorweg. Der erste Teil von „Sein und Zeit“ erschien 1927 unter dem Titel „Sein und Zeit. Erste Hälfte“ im 8. Band des von Husserl herausgegebenen „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“. Ein zweiter Teil ist niemals erschienen, das Werk bleibt Fragment.

Einflüsse

„Sein und Zeit“ zeigt in seiner streng durchkonzipierten Form, wie anhand von einzelnen Passagen, die explizit Ausführungen Immanuel Kants kommentieren, starke Bezüge zur Kritik der reinen Vernunft von Kant, mit dessen Werk sich Heidegger verschiedentlich vor und nach der Abfassung seines Hauptwerks auseinandergesetzt hat. Kaum konzeptionell, jedoch ebenfalls für „Sein und Zeit“ einflussreich sind Metaphysik und Nikomachische Ethik des Aristoteles, mit der sich Heidegger bereits seit seiner Lektüre von Brentanos Dissertation „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“ beschäftigte. Begriffe Heideggers wie Vorhandenheit, Zuhandenheit und Dasein lassen eine Anlehnung an die aristotelischen Termini der theoria, poiesis und praxis erkennen.[2] Inwieweit „Sein und Zeit“ auf Heideggers Auslegungen von Aristoteles beruht, macht eine frühe Skizze Heideggers, der sogenannte „Natorp-Bericht“, deutlich.[3]

Die Phänomenologie Edmund Husserls ist für Heidegger die grundlegende Methode der Untersuchung, wenngleich er an ihr einige Änderungen vornimmt. Für Heidegger gerät Husserl in eine Aporie, wenn dieser einerseits die Weltzugehörigkeit des Ichs und andererseits die gleichzeitige Konstituierung der Welt durch das Ich herausstellt. Heidegger versucht, diese Subjekt-Objekt-Spaltung (Ich als Subjekt der Welt gegenüber ich als Objekt in der Welt) radikal zu überwinden: Die Welt steht Heideggers „Subjekt“, dem Dasein, nicht gegenüber, sondern gehört zum Dasein.

Heidegger selbst sah seinen ontologischen Ansatz in scharfem Kontrast zur philosophischen Anthropologie, die in etwa zeitgleich in den Werken Max Schelers und Helmuth Plessners in Erscheinung getreten ist. Auch zu Wilhelm Dilthey und Georg Simmel und ihren Arbeiten zur geschichtlichen Seite des Menschseins, zu dessen Vergänglichkeit und Hinfälligkeit, grenzt sich Heidegger auf besondere Weise ab: Er versucht, sowohl die ungeschichtliche Phänomenologie und deren vermeintliche Verfehlung der Faktizität des Lebens zu umschiffen, als auch den zum Relativismus neigenden Historismus. Verschiedene Interpreten haben darauf hingewiesen, dass sich Heidegger hierzu wohl auf seine in vorangehenden Arbeiten entwickelte Analyse der frühchristlichen Lebenserfahrung stützt, wie er sie bei Paulus, Augustinus und dem frühen Martin Luther findet.[4] Heideggers hermeneutischer Zugang zeigt sich trotz allem der Formulierung Diltheys verpflichtet: „Hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen.“[5]

Des Weiteren beeinflusste die Existenzphilosophie des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard – hier vor allem die Analyse der Angst – Heideggers Werk. Heidegger setzt sich außerdem mit dem Zeitbegriff Hegels auseinander, an dem er die Verfehlungen einer in der Cartesisch-Kantschen Tradition stehenden Philosophie erläutert.

Aufbau

Das schließlich veröffentlichte Buch umfasst nur eine Einleitung und die ersten beiden Teile des ersten Bands, mehr wurde von Heidegger zunächst nicht ausgearbeitet. In den 30er-Jahren gab Heidegger diese Arbeit ganz auf. Ein Hinweis darauf, dass das Werk Fragment bleiben wird findet sich jedoch erst in der 7. Auflage von 1953, wenn nun der Titelzusatz „Erste Hälfte“ weggelassen wurde.

Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte „Sein und Zeit“ aus zwei Bänden bestehen, die sich wiederum in je drei Teile gliederten:

Blick von Heideggers Hütte über das Todtnauer Land
  1. Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sinn von Sein
    1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins
    2. Dasein und Zeitlichkeit
    3. Zeit und Sein
  2. Grundzüge einer phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie
    1. zu Kant
    2. zu Descartes
    3. zu Aristoteles

Aus dieser Gliederung erkennt man, wie die Untersuchung verläuft: Heidegger beginnt (Teil 1.1.) mit einer Analyse des Verhältnisses von Mensch („Dasein“) und Welt, der „Fundamentalanalyse des Daseins“ (auch Fundamentalontologie genannt). Hier werden die sogenannten Existenzialien des Daseins freigelegt. Von diesen her erarbeitet Heidegger eine Bestimmung des Daseins als Struktur, welche er Sorge nennt. Die Interpretation der Sorge (Teil 1.2.) erweist als ihren „Sinn“ die Zeitlichkeit.

Der anschließende Teil (1.3.) hätte auf diesem Zwischenergebnis aufgebaut und den Bogen von der Zeitlichkeit hin zur Zeit und von dieser zum Sinn von Sein überhaupt spannen sollen, um letztlich zur Ausgangsfrage zurückzukehren. Mit der so gewonnenen Erkenntnis sollten in einem weiteren Schritt andere Philosophien „destruiert“ werden, wozu es in dem Fragment gebliebenem Werk nicht mehr kommt. Heidegger kehrte später vom fundamentalontologischen Ansatz ab, was er als seine Kehre bezeichnete und suchte einen anderen Zugang zur Seinsfrage. Zwischen seinen späteren Schriften (etwa dem Aufsatz „Zeit und Sein“) und Sein und Zeit lassen sich gleichwohl viele Verbindungen ziehen. Wie Kontinuität und Brüche in Heideggers Werk letztlich zu beurteilen sind, ist in der Forschung umstritten. Ebenso umstritten ist die Rekonstruktion des nicht erhaltenen Werkteils durch verstreute Äußerungen und Texte (etwa die „Grundprobleme der Phänomenologie“) und deren Interpretation.

Grundbegriffe des Werkes

Sein und Seiendes

Hauptartikel: Ontologische Differenz

Grundlegend für den Heideggerschen Zugriff auf die Seinsproblematik ist die Unterscheidung von Sein und Seiendem, die Betonung der ontologischen Differenz zwischen beidem. Mit „Sein“ bezeichnet Heidegger – vereinfacht gesagt – den ‚Verständnishorizont‘, auf dessen Grundlage erst die Dinge in der Welt, das „Seiende“ begegnen können. Wird das Sein zum Beispiel im Rahmen der christlichen Theologie aufgefasst, dann erscheint vor diesem Hintergrund alles Seiende als von Gott geschaffen. Dabei vertritt Heidegger den Standpunkt, dass das Sein (der ‚Verständnishorizont‘) bis in seine Gegenwart hinein nicht explizit thematisiert worden ist. Nach Heidegger führt dies seit der klassischen Ontologie der Antike zu einer Verwechslung von Sein und Seiendem.

Das Sein ist jedoch nicht nur der nicht thematisierte ‚Verständnishorizont‘, sondern bezeichnet auch das, was ist, hat also eine ontologische Dimension. Man könnte sagen, Heidegger setzt Verstehen mit Sein gleich, was bedeutet: Nur was verstanden wird, ist auch und das was ist, ist immer schon verstanden, da Seiendes nur auf dem Hintergrund des Seins erscheint. Dass etwas ist und was etwas ist, gehen also stets miteinander einher. Damit wird auch die Bedeutung der Zeit für eine Bestimmung des Seins verständlich, insofern sich Zeit als Bedingung für jegliches Verstehen erweist.

Eine zentrale Verfehlung der klassischen Ontologie ist nach Heidegger, dass sie die ontologische Frage nach dem Sein vermittels des bloß ontischen Seienden gestellt hat. Unter Missachtung der ontologischen Differenz führte sie also das Sein auf Seiendes zurück. Durch diese Rückführung verstellt sie aber gerade, so Heidegger, das Sein des Seienden. Als Beispiel hierfür mag wieder der Hammer dienen: Geht man davon aus, dass nur Seiendes in Form von Materie ist, dann wird man auf die Frage, was ein Hammer ist, antworten: Holz und Eisen. So kann man jedoch niemals verstehen, dass der Hammer doch „das Ding zum hämmern“ ist. Auch die Selbstauffassung des Menschen bleibt hiervon laut Heidegger nicht verschont. Dies hat den Grund darin, dass der Mensch sein Verstehen immer an der Welt und den Dingen in ihr schult. Will er sich nun selbst verstehen, dann rückprojiziert er das an der Welt gewonnene Verständnis des Seins (also etwa „die Welt besteht aus Dingen“) auf sich und fasst sich selbst als Ding auf. Dem stellte Heidegger seine Auffassung des Menschen als Existenz entgegen, die betont, dass der Mensch kein Ding ist, sondern nur im Lebensvollzug existiert.

Die Missachtung der ontologischen Differenz ist somit für Heidegger der Grund, warum in der Tradition Sein oftmals nur als bloße Vorhandenheit (von Dingen oder Materie) thematisiert wurde. Um diesen Fehler zu vermeiden, wird Heidegger statt von Dingen auszugehen, denjenigen in den Blick bringen, der die Frage nach dem Sein stellt, nämlich den Menschen als Dasein.

Die „Sein und Zeit“ zugrundeliegende scharfe Trennung zwischen ontischen und ontologischen Bestimmungen führt zu einer Verdopplung der Begrifflichkeit: zahlreiche Begriffe des Werkes treten daher in einer ontischen und einer ontologischen Bedeutung auf. Dass Alltagssprache und die philosophische Begrifflichkeit der Tradition hier nicht unterscheiden, ist ein Umstand, der in der Rezeption von „Sein und Zeit“ oft zu Missverständnissen geführt hat.

Ontischer Begriff / Bestimmung Ontologischer Begriff / Bestimmung
Seiendes Sein
Mensch Dasein
existenziell existenzial
Stimmung Befindlichkeit
Sprache Rede
„Welt“ (mit Anführungszeichen: Summe des Seienden) Welt (in ihrer Weltlichkeit)

Insofern die Verwechslung von ontischen Bestimmungen und Ontologie auch der bisherigen Metaphysik zugrunde liegt (vgl. Seinsvergessenheit), steht „Sein und Zeit“ im Ansatz für eine Destruktion aller bisherigen Ontologie und Metaphysik, ein Anspruch, der aufgrund der Unabgeschlossenheit des Werkes letztlich nicht ganz eingelöst werden kann, welchen aber der spätere Heidegger nach „Sein und Zeit“ nochmals auf andere Weise radikalisiert.

Dasein

Dasein als Ausgangsbegriff anstelle des bereits vielfach ausgelegten und kategorisierten Begriffs Mensch
Der vielleicht wichtigste Begriff des Werks ist Dasein; so nennt Heidegger das Seiende, das „je ich selbst bin“. Den naheliegenden Ausdruck Mensch vermeidet er, weil er sich von der traditionellen Philosophie und ihren Urteilen abgrenzen will. Unter Dasein soll nicht eine allgemeine Kategorie „Mensch“ verstanden werden, über die jeder bereits theoretische Vorurteile hegt, der neue Begriff soll die Möglichkeit eröffnen die Philosophie an die unmittelbare Lebenserfahrung des Einzelnen rückzubinden. Zugleich ermöglicht der Begriff eine Abgrenzung zur an Kant orientierten Erkenntnistheorie. Heidegger geht in seiner Untersuchung nicht von einem erkennenden Subjekt aus, sondern von einem verstehenden Dasein. Damit verlagert sich die Frage danach, wie das Subjekt die Gegenstände erkennt dahingehend, welche sinnhaften Bezüge die Dinge in der Welt haben und wie man diese versteht: Das Sein der Dinge und des Daseins wird auf seinen Sinn hin befragt.

Zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein beginnt Heidegger seine Untersuchung mit dem Dasein, weil dieses die Frage nach dem Sein stellt. Um diese Frage überhaupt stellen zu können, muss das Dasein über ein bestimmtes Vorverständnis von Sein verfügen – sonst wüsste es nicht einmal, wonach es fragen soll (Vergleiche Platons Dialog Menon).

Freilegung der Existenzialien als phänomenologische Analyse des Daseins
Jeder Mensch glaubt ungefähr zu wissen, was „Sein“ bedeutet, und sagt „ich bin“ und: „das da ist“. Das Dasein (allein) kann darüber staunen, dass es „überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.“ Das Dasein findet sich vor – in Heideggers Worten: Es ist geworfen in das „Da-sein“ – und muss sich zu seinem Sein und zum Sein als Ganzem verhalten. Es hat ein Leben zu führen und ist hierfür notwendigerweise auf sich und die Welt immer schon irgendwie bezogen. Es scheint Heidegger daher von Vorteil mit seiner Analyse beim Dasein anzusetzen.

Um der Struktur des Daseins und seinem Verhalten auf die Spur zu kommen, analysiert Heidegger das Dasein mit Methoden der Phänomenologie und legt so dessen Existenzialien frei, also das was Dasein disponiert und in seinem Lebensvollzug bestimmt. Als vorläufiges Ergebnis der Analyse ergibt sich: Das Dasein ist sowohl

  • immer „schon in“ einer Welt (Geworfenheit), d. h. faktisch in ein kulturelles Überlieferungsgeschehen eingebunden, als auch
  • „sich vorweg“ (Entwurf), indem es diese Welt versteht und Möglichkeiten darin ergreift oder ausschlägt und drittens
  • „bei“ allem innerweltlich Seienden (Verfallenheit an die Welt), das heißt bei den Dingen und Menschen, an denen es sich unmittelbar orientiert.

In der Einheit dieser drei Punkte sieht Heidegger das „Sein des Daseins“ – in der typisch heideggerschen Terminologie: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“.

Sorge als das Sein des Daseins
Das Sein des Daseins – die existenziale Gesamtstruktur des Daseins – nennt Heidegger abkürzend „Sorge“. „Sorge“ im heideggerschen Sinne ist ein rein ontologisch-existenzialer Titel für die Struktur des Seins des Daseins. Dieser Begriff der Sorge hat also nur oberflächlich etwas zu tun mit Alltagsbegriffen wie Besorgnis (Sorge) oder Sorglosigkeit. Das Dasein ist immer schon in einem umfassenden Sinn in Sorge, indem es sich in der Welt wiederfindet, diese von vornherein verstehend auslegt und dabei von Anfang an auf Dinge und Menschen verwiesen ist.

Heidegger ist sich bewusst, dass die Identifikation der Struktur des Seins des Daseins mit Sorge problematisch ist. So versucht er in § 42 diese existenziale Interpretation vorontologisch zu „bewähren“. Hierzu greift er auf eine antike Fabel des Hyginus zurück (220. Fabel: „Cura cum fluvium transiret …“). Vom heutigen Standpunkt her mag man eine solche Bewährung mindestens verwunderlich finden; es zeigt sich hier aber eine Vorgehensweise Heideggers, die für den späteren Heidegger bezeichnend sein wird. Diese vorontologische Bewährung richtet Heidegger auch gegen Husserls theoretisches Konzept der Intentionalität. Der Terminus Sorge soll dementgegen eine Seinsweise des Menschen beschreiben, die sich eben nicht nur auf das erkennende Anschauen der Welt beschränkt, sondern zunächst im praktischen Umgang mit der Welt steht, der dann auch eine theoretische Erfassung der Welt ausprägen kann.

Zeitlichkeit

Betrachtet man die Bestimmung des Daseins als Sein zum Tode genauer, wird deutlich, dass erst die Zeitlichkeit des Daseins es diesem ermöglicht, sich auf den Tod auszurichten. So erweist sich entsprechend der Bestimmung des Daseins als Sorge, nämlich als Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden) die Zeitlichkeit für die gesamte Sorgestruktur als grundlegend: Zeitlichkeit ist der Sinn der Sorge. Die Zeitlichkeit wird durch drei Ekstasen ausgemacht: Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart. Heidegger ordnet diese der entsprechenden Bestimmung der Sorge zu:

  • Schon-sein-in-der-Welt: Gewesenheit
  • Sein-bei (dem momentan zu Besorgendem): Gegenwart
  • Sich-vorweg-sein (im Entwurf): Zukunft.

An dem Punkt, an dem Heidegger aus ihnen einen allgemeinen Begriff der Zeit herleiten will, bricht das Buch ab.

Verfallenheit und Eigentlichkeit: Das Man

Mit dem Begriff des Man fasst Heidegger den kulturellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergrund des Daseins. Der Mensch ist als kulturelles Wesen stets auf ein Überlieferungsgeschehen angewiesen und durch dieses bestimmt. Die Summe der kulturellen und gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen nennt Heidegger Faktizität. Von ihnen kann niemals abgesehen werden, da sie wesentlich zum Mensch als kulturellem Wesen gehören. Zwar befähigt die Kultur den Menschen erst gewisse Dinge zu tun und ermöglicht ihm so seine Freiheit, allerdings kann es auch sein, dass er durch die eigene Kultur in Denken und Handeln vorbestimmt wird, ohne dass ihm dies bewusst wird. Das Dasein ist dann den vorgegebenen Verhaltensmustern und Anschauungen ausgeliefert. Diesen Zustand des Ausgeliefertseins bezeichnet Heidegger als uneigentliche Existenz.

Der Zustand der Uneigentlichkeit ist dabei für Heidegger der durchschnittliche Ausgangszustand des Menschen. So ist das Dasein notwendigerweise durch die kulturellen und öffentlichen Verhaltensangebote bestimmt. Diese nehmen dem Dasein sein eigentliches Sein ab, Dasein steht in der Botmäßigkeit der Anderen. Die Anderen sind hierbei niemand Spezielles und so lautet die Antwort auf die Frage, wer das Dasein in seiner Alltäglichkeit ist: das Man.

„Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht.“

Das Man wacht über jede sich vordrängende Ausnahme:

„Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung nennen wollen“. (S. 127)

Diese Funktion des Man bezeichnet Heidegger als Öffentlichkeit. Das Man übernimmt zudem die Verantwortung für das Dasein, denn das Dasein kann sich stets auf es berufen: Das macht man eben so. Heidegger formuliert scharf: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“

Der uneigentlichen Fremdbestimmung stellt Heidegger das eigentliche Selbstsein als existenzielle (nicht existenziale) Modifikation des Man entgegen. In der Gegenüberstellung von Jemeinigkeit und Man sucht Heidegger nach der Möglichkeit eines authentischen Lebens, dem eigentlichen Selbst-sein-können. Hierzu analysiert Heidegger das mögliche eigentliche oder uneigentliche Verhalten des Daseins zu dessen Existenzialien. Als Möglichkeit der eigentlichen Existenz erweist sich

  1. die zeitliche Ekstase der Zukunft, auf die hin Dasein sich entschlossen entwirft, d.h. indem es seine Lebensführung an von ihm selbst kritisch geprüften und für erstrebenswert erachteten Interessen ausrichtet.
  2. die zeitliche Ekstase der Gewesenheit – Heidegger lehnt sich hier an Ideen Diltheys an. Indem sich das Dasein „seine Helden“ aus der Vergangenheit wählt und deren gewesene Möglichkeit zum eigentlichen Selbst-sein-können nicht einfach nachmacht, sondern beantwortet, bietet sich ihm in der Wieder-holung der Möglichkeit die Chance des eigentlichen Selbst-sein-könnens.

Damit eine solche Wende hin zum authentischen Leben stattfindet, bedarf es des „Ruf(es) des Gewissens“. Heidegger beschreibt in diesem Zusammenhang eine Struktur, in welcher das Gewissen das eigene Dasein dazu „aufruft“, es selbst zu sein. Als Gewissensfunktion lässt sich dies deshalb verstehen, weil nun vom Dasein gefordert wird, dass es sich in seinem Handeln nicht mehr bloß auf das Man beruft, sondern von nun ab selbst Verantwortung für seine Entscheidungen übernimmt.

Befindlichkeit

Eine wichtige Rolle spielt in „Sein und Zeit“ die Befindlichkeit als vorreflexiver Weltbezug des Daseins. Heidegger sieht nicht nur das Verstehen (oder gar die reine Vernunft) als Zugang zur Welt, sondern betont, dass uns die Dinge in der Welt etwas angehen. Die Befindlichkeit ist somit für die Erschlossenheit von Welt wesentlich. Besondere Bedeutung kommt der Angst als Grundbefindlichkeit zu, denn sie erschließt dem Dasein sein In-der-Welt-sein und bringt es vor dieses. Die Angst lässt die Bezugsganzheit des Um-zu und Um-willen in sich zusammensinken: Die Dinge werden für uns bedeutungslos und wir werden auf uns selbst zurückgeworfen. Die Angst lässt von den Handlungsangeboten der Welt zurücktreten und versetzt uns in ein Moment des reflexiven Selbstbezugs. Hieraus kann die Entscheidung erwachsen, die eigene Existenz bewusst in die Hand zu nehmen und ein authentisches Leben zu führen, das sich nicht an die kontingenten Angebote der Öffentlichkeit verliert. Eine solche Seinsweise entspricht der eigentlichen Existenz. Nachdem Heidegger im zweiten Teil von '„Sein und Zeit“' dann die Zeitlichkeit des Daseins untersucht hat, kann dieses Phänomen auch in Hinblick auf die Zukunft verstanden werden. Dabei erweist sich der Tod als ein Moment, der das Dasein auch bezüglich seiner zeitlichen Erstreckung in die Eigentlichkeit fügt: Als unhintergehbare letzte Möglichkeit steckt er den Handlungsspielraum ab, der einem gegeben ist.

Sein zum Tode

Die Bestimmung des Daseins als Sorge, sowie als sich vorweg und schon sein in zeigt, dass der Mensch immer „mehr“ ist, als sein bloßer Leib: er ist eine Person mit einer Vergangenheit und einer Zukunft. Diese gehören zum Dasein, erst mit ihnen ist es ein Ganzes. Begrenzt wird es dabei durch sein Ende, den Tod. Dieser ist jedoch nicht nur ein einmaliges Ereignis am Ende des Daseins, sondern er bestimmt das Dasein auch in seinem Leben, denn er steckt den vor dem Dasein liegenden Entscheidungsraum ab. Innerhalb dieses Entscheidungsraums wählt das Dasein Möglichkeiten. Der Tod eröffnet zugleich und macht dem Dasein seinen Entscheidungsspielraum bewusst: Erst angesichts des Todes erfasst sich das Dasein als Person mit einer Vergangenheit und einer eigenen Zukunft. Der Tod erschließt dies dem Dasein durch seine Charakteristik. Vor dem Tod kann sich keiner vertreten lassen, es ist immer der jemeinige Tod, der einen als Einzelnen gänzlich in Anspruch nimmt: Im Tod geht es nur und ganz um mich.

Was das Wort Tod bedeutet, kann aber nicht durch Nachdenken, sondern allein in der Stimmung der Angst erfahren werden. Durch diese wesentlich erschließende Funktion der Angst weist Heidegger gegenüber der Vernunft auch den Stimmungen welterkennende Funktion zu. Angst als ontologischer Begriff bezeichnet dabei nicht das bloße Angstgefühl oder die Furcht vor irgendeinem dinglichen Etwas. Auch sind Tod und Angst von Heidegger nicht als wertende Begriffe gemeint, sondern durch ihre Funktion bestimmt: Tod und Angst vereinzeln das Dasein und machen ihm die unwiderrufliche Einzigartigkeit jedes seiner Augenblicke klar.

Wegen der Wirkung, die der Tod auf den Lebensvollzug des Daseins hat, bestimmt Heidegger das Dasein als „Sein zum Tode“ (Vergleiche zu dieser Formulierung Kierkegaards Krankheit zum Tode). Hierdurch entfernt sich Heidegger noch weiter von einer Auffassung des Menschen als Vorhandenes, denn im Sein zum Tode wird ja die Zeit von grundlegender Bedeutung für die Bestimmung des Seins des Dasein. Das Vorlaufen zum Tod wird so zum Ausgangspunkt für ein selbstbestimmtes, authentisches und intensives – in Heideggers Worten – eigentliches Leben, das sich nicht von der Verfallenheit an das alltäglich-gesellschaftliche „Man“ bestimmen und leben lässt.

Heideggers methodischer Zugriff

Hermeneutische Phänomenologie

Heidegger entwickelte im Anschluss an die von seinem Lehrer Edmund Husserl entwickelte Phänomenologie einen eigenen Ansatz, den er ab 1922 als phänomenologische Hermeneutik der Faktizität bezeichnete. Auch Heidegger möchte, wie die Phänomenologie, Grundstrukturen des Seins aufdecken, die Phänomene. Husserl hatte im Rahmen einer Bewusstseinsphilosophie alle Phänomene als Bewusstseinsphänomene eingeordnet. Durch eidetische Reduktion sollten aus dem Bewusstseinsstrom durch Selbstbeobachtung Wesenheiten des Bewusstseins herausgelöst werden, von welchen aus sich dann schrittweise eine „Philosophie als strenge Wissenschaft“ hätte aufbauen lassen sollen. Heidegger jedoch teilt Husserls Beschränkung auf das Bewusstsein nicht, für ihn kann das menschliche Leben mit seiner ganzen Fülle nicht allein auf Bewusstseinserlebnisse zurückgeführt werden. Auch Heidegger möchte zwar mit der phänomenologischen Methode Grundphänomene freilegen, diese aber sieht er nicht im Bewusstsein allein, sondern sie sollen dem faktischen Leben in seiner vollen Breite und geschichtlichen Gewordenheit entnommen werden.

Das menschliche Leben ist jedoch in seinem Vollzug vornehmlich an sinnhaften Bezügen der Welt orientiert und Heidegger schließt hier an Dilthey Spruch an: „Hinter das Leben kann nicht zurückgegangen werden.“ Dies soll meinen, dass es keinen Prozess der „Sinnbildung“, kein Werden zum Sinn gibt, sondern dieser immer schon voraus geht. Sinn kann nicht konstruiert werden oder zunehmen von „ein bisschen Sinn“ hin zu „ein bisschen mehr“. Ist einmal Sinn da, so kann nicht dahinter zurückgegangen werden. Sinn begleitet alle Erfahrung und geht ihr voraus, gibt es erst einmal grundsätzliche Bezüge in der Welt, so ist diese daher auch schon „als Ganze“ sinnvoll. Will die Philosophie aus dieser sinnvollen Welt Grundphänomene herauslösen, dann kann dies offensichtlich nur über ein Verstehen und Interpretieren geschehen. Die Phänomenologie muss also mit Dilthey Methode der Hermeneutik kombiniert werden. Diese phänomenologische Hermeneutik soll dann als Gegenstand das faktische Leben haben, oder, wie es dann in „Sein und Zeit“ heißt, das Dasein analysieren. Dabei geht Heidegger davon aus, dass den „vulgären“ Phänomenen menschlichen Dasein solche Phänomene zu Grunde liegen, die als Bedingung der Möglichkeit jener vulgären angesehen werden können.

Ontologischer Ansatz

Die Tatsache, dass die Welt nur als sinnvolle „ist“, hat außerdem eine ontologische Bedeutung: Da Sinn eine neue Qualität darstellt und somit nicht einfach aus Materie in einem Stufenbau zu konstruieren ist, fallen für Heidegger Sinn und Sein zusammen. Welt und Verstehen sind das gleiche. Die Welt besteht aus sinnhaften Bezügen der Dinge aufeinander und ist nur für den Mensch, der diese versteht. Die Struktur des Verstehen ist dabei so, dass alles Einzelne stets in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wird: So wie der Hammer als einzelnes Werkzeug immer nur im Gesamtzusammenhang von anderen Werkzeugen, die dem Hausbau dienen, sinnvoll verstanden werden kann. Da aber nur die Einzeldinge in der Welt begegnen, niemals jedoch die Welt als der zugrundeliegende Bedeutungshintergrund, nennt Heidegger die Welt transzendental, d.h., sie kann niemals sinnlich erfahren werden und ist doch Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. Sinn ist zudem in seiner Möglichkeit an zwei zeitliche Dimensionen gebunden, nämlich das „aus dem her“ und das „Woraufhin“ etwas verstanden wird. Dieser transzendentale Horizont der Zeitlichkeit erweist sich somit als eine für den Sinn grundlegende Voraussetzung: Sinn muss einerseits stets ein Verständnis vorausgehen, andererseits braucht es eine zukünftige Welt, auf die hin sich das Verstehen ausrichtet.

Wirkung und Rezeption

Hauptartikel: Heidegger-Rezeption

Das Buch war in philosophischen Kreisen eine Sensation und machte Heidegger über Nacht berühmt, weil es eine neue Sicht auf den Menschen zu eröffnen schien. Gadamer: „Mit einem Schlag war der Weltruhm da.“[6] Die Verwendung von Heideggers eigenwilliger Sprache wurde kurzzeitig Mode. Zur ersten Generation, die sich, teils in kritischer Distanz, Ideen aus „Sein und Zeit“ aneignete und weiterformte, zählten Heideggers damalige Schüler Hans Jonas, Karl Löwith, Herbert Marcuse und Hannah Arendt.

Gadamer und die Hermeneutik

Wirkungsgeschichtlich bedeutsam war Heideggers Versuch, die Geschichtswissenschaft neu zu begründen, sowie sein hermeneutischer Ansatz: Dasein hat immer schon ein gewisses Vorverständnis von sich, dem Sein und dem Seienden, die Welt ist ihm als sinnhafte Totalität gegeben, hinter deren Sinnzusammenhänge nicht zurückgegangen werden kann. Heideggers Schüler, Hans-Georg Gadamer, baute darauf seine Hermeneutik auf. Dabei tritt allerdings an die Stelle einer Existenzialanalytik, die übergeschichtliche Strukturen freilegt, Gadamers These von der Geschichtlichkeit allen Verstehens. Gadamer sieht denn auch die Aufgabe der Hermeneutik nicht mehr darin, das Dasein in seiner Alltäglichkeit zu untersuchen, sondern richtet sie auf das Überlieferungsgeschehen aus, bezüglich dessen sich die Frage stellt, wie von uns überhaupt Dokumente verstanden werden können, die in einem gänzlich anderen Verständnishorizont abgefasst wurden. Diese Ideen kommen in „Wahrheit und Methode“ (1960) zu einem gewissen Abschluss. Durch diese Wiederbelebung der Hermeneutik als Methode entstand ein Einflussfeld in dem sowohl noch die werkimmanente Interpretationslehre Emil Staigers in der Literaturwissenschaft steht, als auch die rezeptionsästhetische Methode Paul Ricoeurs und das „schwache Denken“ Gianni Vattimos.

Arendt

Hannah Arendt entwarf gegen „Sein und Zeit“ ihre politische Philosophie „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ (1958/60). Arendt empfand es als Mangel, dass Heideggers „Dezisionismus“ der Entschlossenheit eigentümlich unbestimmt bleibt, was Entscheidungskriterien für ein politisches Engagement angeht. Gegen Heideggers starke Betonung des Todes als ein den Menschen bestimmendes Prinzip entwarf sie eine Philosophie der Gebürtlichkeit (Natalität).

Marcuse

In direktem Anschluss an „Sein und Zeit“ verlängert Herbert Marcuse in seinen frühen Arbeiten den Existenzialanalytischen Ansatz in Richtung einer Hegelschen Geschichtsphilosophie und einer Marxschen Dialektik, was sich 1931 in „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ niederschlägt. Sein späteres Werk „Der eindimensionale Mensch“ (1964) greift das Konzept der Uneigentlichkeit und Verfallenheit auf, die Marcuse nun in Hinblick auf die sinnlose Konsum-, Güter und Produktionswelt des Spätkapitalismus hin interpretiert. Ihr stellt er die eigentliche Existenz der „großen Weigerung“ entgegen, die mit einem authentischen Engagement einhergeht.

Sartre

Der Existenzialismus, insbesondere Jean-Paul Sartre, sah sich in direkter Nachfolge von „Sein und Zeit“. Sartre schließt schon im Titel seines Werks „Das Sein und das Nichts“ (1943) an Heidegger an, in dem er die absolute Freiheit jeglichen Handelns aber auch Handelnmüssens herausstellt. Heidegger hat diese „existenzialistische Interpretation“ zwar abgelehnt, dass der Existenzialismus aber grundlegende Thesen aus diesem Buch übernommen hat, kann kaum bezweifelt werden.

Weitere Rezeption

Maurice Merleau-Ponty empfing für seine „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) wesentliche Anreize, in die er das Fundament eines Leib-Apriori einarbeitet. Auch Emmanuel Levinas Ethik „des Anderen“ ist noch von „Sein und Zeit“ geprägt, aber derart, dass sie starke Kritik an Heidegger übt.

In der Psychologie entwickelten Ludwig Binswanger und Medard Boss existenzialanalytische Psychologien, mit welchen sie sich erhofften, einige der Freud'schen Verfehlungen zu überwinden. In der Psychoanalyse wird Jacques Lacan vom Gedanken der ontologischen Differenz beeinflusst.

In der protestantischen Theologie schloss Rudolf Bultmann an Heideggers Existenzialanalyse an. Da diese nur die allgemeine Struktur des existierenden Daseins freilege, diese „nackte Existenz“ jedoch noch nicht mit konkreten Inhalten gefüllt ist, möchte sie Bultmann mit der entmythologisierten christlichen Botschaft zusammenführen:

„Indem die Existenzphilosophie die Frage nach meiner eigenen Existenz nicht beantwortet, legt sie meine eigene Existenz in meine persönliche Verantwortung, und indem sie das tut, macht sie mich offen für das Wort der Bibel.“[7]

„Sein und Zeit“ hatte außerdem großen Einfluss auf die moderne Japanische Philosophie in ihrer international am bedeutendsten Ausprägung der Kyōto-Schule. Das Buch wurde bis heute sechsmal ins Japanische übersetzt, was nicht einmal für Kants Kritik der reinen Vernunft gilt.

Heidegger wirkte auch auf den Strukturalismus, Poststrukturalismus sowie auf Dekonstruktion und Postmoderne. Michel Foucaults Diskursanalyse findet über Heideggers späteres Konzept der „Seinsgeschichte“ Anschluss, für Jacques Derrida wird der Begriff der Differenz (in Form der Différance) prägend.

Analytisch ausgebildete Philosophen wie Hubert Dreyfus in den USA greifen vor allem Heideggers pragmatistische Ansätze auf, aber auch seine Analyse der Welt als eines Verständnishorizonts (Beispielsweise im Zusammenhang mit Zeug, die „Zeugganzheit“), die sie rein intentionalistischen Ansätzen entgegenstellen. So hat etwa auch John Searle erst nach einem Hinweis Dreyfus' auf Heidegger sein Intentionalitäts-Konzept um einen Verständnishorizont erweitert.

Kritik

Allgemeine und methodologische Kritik

  • Die folgende Kritik richtet sich gegen den methodischen Zugang oder ein allgemein als verfehlt angesehenes Vorgehen Heideggers.

Sprache und Verständlichkeit
Verschiedene Kritiker machen Heidegger die schlechte Verständlichkeit des Werks zum Vorwurf. Einige Kritiker - so etwa der Philosoph und Soziologe Hans Albert[8] - sind der Ansicht, das Werk sage im Ganzen recht wenig, jedenfalls wenig Neues, und verschleiere dies mit vielen Worten. Der erste Kritiker der Sprache Heideggers war Walter Benjamin, der schon 1914 den Gebrauch von Neologismen in der Philosophie abgelehnt hatte. Adorno kritisierte viel später, aber daran anschließend, den Jargon der Eigentlichkeit, wie er Heideggers Stil nannte. Begriffe der Umgangssprache würden hier suggestiv umgedeutet, um eine bestimmte Art des Denkens zu popularisieren, so zum Beispiel die Verwendung des Begriffs der Sorge.

Fehlen einer expliziten Ethik und Benutzung implizit wertender Begriffe
Gegenstand dauernder Auseinandersetzung ist die Frage, ob sich in der frühen Philosophie Heideggers, deren Hauptstück „Sein und Zeit“ ist, Tendenzen zeigen, die in Zusammenhang mit seinem späteren Engagement für den Nationalsozialismus stehen. (Siehe Heidegger und der Nationalsozialismus.) Auffällig ist hier zunächst das Fehlen jeglicher Ethik in dem Buch. Auf den zweiten Blick ist jedoch bemerkbar, dass eine Reihe von Passagen sich auch gut im Rahmen des Gedankenkreises, der in den 20er-Jahren als Konservative Revolution Einfluss erlangte, lesen lassen. In seinem Zurückgehen auf „Ursprüngliches“, bei dem er oft Metaphern aus dem bäuerlichen Leben benutzt, sei Heideggers Konservatismus erkennbar. Zwar betont Heidegger immer wieder, dass seine Sätze und Begriffe nicht wertend gemeint seien; aber es fällt leicht, Teile des Werks – Passagen gegen die Verfallenheit an das Man, gegen das Gerede des Alltäglichen und die Aufrufe zur Eigentlichkeit im Gegensatz zum „uneigentlichen“ Alltag – auch politisch und im Kontext der Kritik an der Moderne, der Anonymität in der Massengesellschaft und an der liberalen Demokratie zu lesen.[9]

Verwendung traditionell negativ besetzter Begriffe
Weitere Kritik richtete sich gegen Heideggers Vorliebe für im klassischen Sinn negativ besetzte Begriffe wie Tod, Sorge und Angst.[10] Im ganzen Buch kommen Bereiche wie Liebe, Lust oder Freude so gut wie nicht vor. Kritiker nannten Heidegger polemisch einen „Todesphilosophen“, Heideggers Schülerin Hannah Arendt entwarf eine Philosophie der „Gebürtlichkeit“ im Gegensatz zu Heideggers „Todesphilosophie“.

Kritik Husserls
Auch Husserl begegnete dem Werk von Anfang an mit einer gewissen Skepsis. Er sah darin eine „anthropologische Regionalontologie“ und vermisste die Linientreue zu seiner Methode, „zu den Sachen selbst“ zurückzukommen. Später kritisierte auch er die zentrale Rolle, die der Tod bei Heidegger spiele. Husserl hielt Heideggers Denkansatz für inkompatibel mit der phänomenologischen Methode; insbesondere seine Phänomenologie der Lebenswelt unterscheidet sich erheblich von Heideggers Konzept des In-der-Welt-Seins, es ist konkreter und leiblicher, auch sozusagen soziologischer im Bemühen, die „Klippe des Solipsismus“ (Sartre) zu umschiffen – während Heidegger aufs vereinzelt Geistige, „Wesentliche“ abhebt. Maurice Merleau-Ponty folgte in dieser Hinsicht dem Husserlschen Modell. Sartre pendelt zwischen beiden.

Heideggers eigene Abkehr von Sein und Zeit

Heidegger selbst wandte sich Mitte der 30er-Jahre mit der Kehre von seiner bisherigen Philosophie ab. Zwar war die Seinsfrage weiterhin sein größtes und einziges Interesse, er hielt aber den Zugang über das Dasein, den er in „Sein und Zeit“ gewählt hatte, für verfehlt. Einschlägig wird diese Abkehr im Brief über den »Humanismus«, den Heidegger an Jean Beaufret schreibt und in dem er die Interpretation der Sorge umdeutet: Dasein zeichnet sich nun durch eine „Sorge für das Sein“ aus. Man kann sagen, dass Heidegger sein eigenes Programm für zu anthropozentrisch hielt, hatte er doch versucht das gesamte Seinsverständnis des Daseins durch die Sorge zu erklären. Heideggers „Denk-Weg“ lässt sich daher als Selbstkritik auffassen. Andererseits konnte man ihn noch im hohen Alter vor seiner Hütte in Todtnauberg antreffen, „Sein und Zeit“ lesend – weil dies doch etwas „Vernünftiges“ sei.

Kritik am Wahrheitsbegriff

Ernst Tugendhat hat sich ausführlich dem Unterschied zwischen Husserls und Heideggers Wahrheitsbegriff gewidmet und kritisiert an Heidegger, dass dieser das Wahrheitsgeschehen schon auf der Ebene der Erschlossenheit ansetzt, statt einen Abgleich der Sache mit sich selbst zu fordern.

Kritik am Grundkonzept von Sein und Zeit
Ernst Tugendhat kritisiert zudem Heideggers Grundkonzept von Sein und Zeit, nämlich den Sinn von Sein aus der Zeit zu verstehen, als nicht genügend begründet. In diesem Zusammenhang wirft er Martin Heidegger etwa vor, dass dieser „nirgends klar gesagt [hat], worin der Unterschied zwischen Sein im Sinn von Zuhandenheit und Sein im Sinn von Vorhandenheit bestehen soll, und es bleibt auch unklar, wieso ein Mensch, weil er diese Eigentümlichkeit der Existenz hat ... nicht gleichwohl ein Vorhandenes ist. Heidegger hat keine Kriterien dafür angegeben, wie man verschiedene Seinsmodi unterscheiden könne. Und auch die Idee, man müsse die Erschlossenheit und so auch das Sein von einem Modus aus einem anderen ableiten, das eine sei „ursprünglicher“ als das andere und das theoretische Bewusstsein der Vorhandenheit müsse aus dem praktischen des Bezugs des Daseins zu sich selbst abgeleitet werden, sind einfach Vormeinungen von Heidegger, die er nicht begründet hat.“[11]

Kritik einzelner Aspekte

  • Im Folgenden werden hermeneutische Methode und ontologischer Anspruch als richtiger Zugang angesehen, die Kritik richtet sich gegen einzelne Aspekte der Heideggerschen Analyse.

Widerspruch von Jemeinigkeit und Man
Heideggers Versuch in „Sein und Zeit“ die Bedingungen und Möglichkeiten für ein authentisches, also eigentliches Leben herauszuarbeiten führen zu einem starken Gegensatz von Jemeinigkeit (Individuum) und Man (Gemeinschaft). Die Unüberbrückbarkeit dieser beiden führt dazu, dass sich das Dasein als Entschlossenes gegen die Verfallenheit an das Man wehren muss. Hier lassen sich durchaus antisoziale Tendenzen ausmachen, da durch den schroffen Gegensatz eine Fundierung des Daseins im Mitsein gar nicht mehr möglich ist.[12] Es gibt hingegen auch Lesarten, die Heideggers Überlegungen im Sinne eines Vorschlags zur Differenzierung von positiv-entlastender und negativ-entfremdender Funktion des Man zu Verstehen.[13] Heidegger selbst hat sich später gegen eine Interpretation der Jemeinigkeit als Gegensatz von „Ich“ und „Wir“ gestellt. Die Jemeinigkeit sei keines der beiden.[14]

Nivellierung der Gegenwart
Die hohe Bedeutung, die Heidegger den Zeitachsen der Zukunft und Gewesenheit für das eigentliche Selbst-sein-können zuspricht, führt zu einer Nivellierung der Gegenwart. Die reichen Ausdifferenzierungen der Zukunft durch Existenz, Entwurf, Vorlaufen zum Tod, Entschlossenheit und die der Gewesenheit durch Faktizität, Geworfenheit, Schuld, Wiederholung stehen der Gegenwart, die in ihrer Bestimmung leer bleibt, entgegen. Die Gegenwart wird somit gleichsam „verschlungen“ von der „gewesenen Zukunft“.[15]

Fehlende Theorie über die soziale Verfassung des Menschen
In dem der Weltlichkeit der Welt gewidmeten Kapitel zeigt sich die Welt vor allem als eine Welt der nützlichen Dinge für das einzelne Dasein. Die anderen Menschen begegnen dem einzelnen Dasein nur vermittels dieser Dinge (z. B. durch das Boot des Anderen am Ufer). So wird kritisiert, dass die Welt in „Sein und Zeit“ keine öffentliche Welt des gemeinsamen Seins der Menschen sei und es an einer Theorie fehle, die den Zugang zum anderen plausibel erkläre. Dem steht entgegen, dass sich in Heideggers Bestimmung des Wer des Daseins als Man durchaus eine kultursoziologische These findet, die anzeigt, dass der Mensch wesentlich durch einen kulturellen Traditionsbestand und gesellschaftlich-sozialen Vorgaben bis in seine intimsten Regungen hinein – sein Wer – bestimmt ist.

Überbewertung des praktischen Weltbezuges
In seinem Bestreben den Vorrang des praktischen Weltbezugs vor dem theoretischen zu betonen überzeichnet Heidegger in „Sein und Zeit“ seine Auffassung sogar dahingehend, dass auch die Natur (Wälder, Flüsse, Berge) nur unter Nützlichkeitserwägungen erscheint (Forst, Wasserkraft, Steinbruch). Heidegger wird diese Sichtweise in seiner späteren Technikkritik selbst zurückweisen.[16]

Widerspruch zwischen transzendentaler und faktischer Welt
Zwischen der durch das Dasein konstituierten in seinem Um-willen mündenden Bewandtnisganzheit und der in der Stimmung der Unheimlichkeit entdeckten Bedeutungslosigkeit der Bewandtnisganzheit lässt sich ein Widerspruch ausmachen. Die Unheimlichkeit gründet in der für das Dasein nicht verfügbaren Faktizität der Welt, während Heidegger andererseits behauptet die Weltlichkeit der Welt sei als transzendentale im Dasein fundiert.[17]

Todesanalyse und eigentliches Selbstsein
Heideggers Verbindung von Tod und Eigentlichkeit lässt sich auch andersherum lesen. Ist bei Heidegger davon die Rede, dass erst angesichts des Todes das Dasein sich selbst ergreift, was die Entschlossenheit nach sich zieht, so wäre hingegen eine Erfahrung des Todes denkbar, die nicht einen gesteigerten Selbstbezug, sondern Gelassenheit nach sich zöge.[18] Günter Figal hat eine Lesart vorgelegt, nach welcher Heidegger das Phänomen des Todes im Grunde nicht brauchen würde um zu einem freien und eigentlichen Selbst- und Weltverhältnis zu kommen. Das Sein zum Tode ist für Figal daher überflüssig, da wir zur Beurteilung von uns angehenden Möglichkeiten nicht notwendig den Tod in unsere Überlegungen mit einbeziehen müssen.[19]

Nichtbeachtung der Leiblichkeit des Daseins
Heidegger klammert in seiner Untersuchung die Leiblichkeit des Daseins völlig aus. Dass dies zu Einseitigkeiten führt, zeigt sich zum Beispiel an seiner Analyse der Gestimmtheit, für die er die Gewesenheit als Grund bestimmt: „Es gilt […], den Nachweis zu führen, dass die Stimmungen in dem, was sie sind und wie sie existenziell ‚bedeuten‘, nicht möglich sind, es sei denn auf dem Grunde der Zeitlichkeit.“[20] Hier könnte man kritisch einhaken und fragen ob nicht auch die leibliche Verfassung des Daseins und mit ihr etwas nicht-zeitliches einen Einfluss auf die Stimmung hat.[21] Ein erster Kritiker war diesbezüglich Helmuth Plessner.[22] Auch Heideggers Rückbindung des Raums an die Zeitlichkeit in § 70 – die er später in „Zeit und Sein“ selbst als unhaltbar bezeichnen wird – ist nur deshalb möglich, weil er die Leiblichkeit des Daseins übergeht. Heideggers Raum ist ein Entwurfs- und Handlungsraum der sicherlich die Zeitlichkeit braucht, jedoch übersieht Heidegger, dass die leiblich-sinnliche Orientierung im Raum der handelnden vorausgeht.

Kritik am Begriff der Angst
Der Philosoph Reinhardt Grossmann kritisiert den an Søren Kierkegaard orientierten Versuch Heideggers, den Begriff der Angst „sowohl mit Nichts als auch mit dem In-der-Welt-sein zu verbinden“. So ist „die Angst keine Stimmung, ... sondern eine Emotion.“ Des Weiteren sei die Unbestimmbarkeit des Objekts der Angst – im Vergleich zur Furcht – ein Missverständnis, da die „Angst ein ganz gewöhnliches, wenn auch verdrängtes, Objekt hat.“[23]

Hinweise zur Lektüre

Als Hilfe zur Lektüre: Die Darstellung zeigt den Zusammenhang zwischen den Hauptbegriffen in „Sein und Zeit“. (PDF-Datei zum Ausdrucken.)

Heideggers Sprache ist gewöhnungsbedürftig. Er benutzt altertümliche Satzkonstruktionen, viele Neologismen und Bindestrich-Wörter (etwa In-der-Welt-sein, Zeugganzes). Dies entspringt Heideggers Vorhaben, sich von der bisherigen Philosophie zu lösen und Wörter neu zu gebrauchen, um ausgetretene Denkpfade zu verlassen. Hinzu kommt, dass Heidegger viele Wörter verwendet, die zwar aus der Alltagssprache bekannt sind, mit ihnen aber etwas ganz anderes meint (etwa Sorge, Angst).

Ferner ist zu bedenken, dass in den 1920er Jahren der Expressionismus blühte und sich eine Rhetorik entwickelte, die inzwischen oftmals komisch bis idiosynkratisch und über die Maßen pathetisch wirken kann. Dies hat auch auf die philosophische Prosa ausgestrahlt. Daher ist es in der Regel erforderlich, sich in die philosophische Sprache Heideggers, die die gewöhnliche Sprache strapaziert, einzulesen. Sprachliche Ähnlichkeiten existieren etwa zu den Dichtungen von Stefan George, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl.

Die Sprache Heideggers ist jedoch nicht so unverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Ohne Frage besitzt sie jedoch eine starke suggestive Wirkung. Wenn man Heideggers Sprache zunächst dem Wortsinn nach zu verstehen sucht wird deutlich, dass Heidegger sehr kleinschrittig und genau vorgeht. Dieses dem hohen Eigenanspruchs an die Bedeutung seines Werkes geschuldete Verfahren vermittelt bisweilen den Eindruck der Aufgeblasenheit.

Zum Untrennbaren Kontext von Sein und Zeit gehört die Philosophie der Phänomenologie.[24] Heidegger entwickelte seinen Ansatz im Durchgang durch die Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl. Allerdings sind die Unterschiede, wie oben beschrieben, gravierend. Heidegger selbst sah in Karl Jaspers einen Geistesverwandten und verweist in Sein und Zeit auch auf diesen.

Als Ergänzung zur Einleitung gilt Heideggers frühe Schrift von 1922 Anzeige der hermeneutischen Situation,[25] in der die Richtung der Untersuchung von Sein und Zeit vorweggenommen wird und einige spätere Gedanken, teilweise noch mit anderem Vokabular, dargelegt werden.

Ausgaben

  • Martin Heidegger: Sein und Zeit. 19. Auflage, Niemeyer, Tübingen 2006, ISBN 3-484-70153-6 (frühere Auflage auch unter ISBN 3-484-70122-6).
  • Martin Heidegger: Sein und Zeit. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1977 (Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 2, Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1914–1970).

Die Ausgabe im Niemeyer-Verlag ist seitengleich mit Band 2 der Heidegger-Gesamtausgabe aus dem Verlag Vittorio-Klostermann. SZ ist als Sigle für Sein und Zeit gebräuchlich.

Die ersten Auflagen von Sein und Zeit enthielten eine Widmung Heideggers an Edmund Husserl, der jüdischer Abstammung war. In der fünften Auflage von 1941 fehlte diese Widmung. Heidegger zufolge wurde sie auf Druck des Verlegers Max Niemeyer entfernt. In allen Auflagen nach der Zeit des Nationalsozialismus ist die Widmung wieder enthalten.

Literatur

Philosophiebibliographie: Martin Heidegger – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema

Lektürehilfen und Kommentare

  • Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit. 3. Auflage, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 2000.
  • Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung. 5. Auflage, Junius Verlag, Hamburg 2007.
  • Andreas Luckner: Martin Heidegger: Sein und Zeit. Ein einführender Kommentar. UTB, Stuttgart 2001.
  • Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Akademie Verlag, Berlin 2001 (Klassiker Auslegen).
  • Thomas Rentsch: Sein und Zeit: Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit. In: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar 2003, S. 51–80.
  • Michael Steinmann: Martin Heideggers >Sein und Zeit<. WBG, Darmstadt 2010.
  • Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. De Gruyter, Berlin 1967.

Hilfreich zur intensiven Textarbeit

  • Hildegard Feick/Susanne Ziegler: Index zu Heideggers „Sein und Zeit“. Niemeyer, Tübingen 1991, ISBN 3-484-70014-9.

Kommentar und Interpretation des Heidegger-Schülers Friedrich-Wilhelm von Herrmann in enger Anlehnung

  • Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Einleitung: die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein. 1987, ISBN 3-465-01738-2.
  • Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Subjekt und Dasein: Grundbegriffe von „Sein und Zeit“. 3. Auflage, Klostermann, Frankfurt am Main 2004.
  • Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Klostermann, Frankfurt am Main 1981.

Im Rahmen der Phänomenologie

  • Andreas Becke: Der Weg der Phänomenologie: Husserl, Heidegger, Rombach. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 1999, ISBN 3-86064-900-0.
  • Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. Fink, München 1992.
  • Karl-Heinz Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994.

Zeitgeschichtlicher Hintergrund

  • Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. Fischer, Frankfurt am Main 2001 (weitgehend biographisch, nicht systematisch).
  • Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 (zur Kontextualisierung in der Konservativen Revolution).

Kritische Auseinandersetzung

Weblinks

Wikibooks Wikibooks: Martin Heidegger. Sein und Zeit – Lern- und Lehrmaterialien

Einzelnachweise

  1. Vgl. Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Stuttgart 1994, S. 48.
  2. Vgl. erläuternd Franco Volpi: Der Status der existenzialen Analytik. In: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 37f
  3. Kritisch editiert und herausgegeben von Günther Neumann bei Reclam unter dem Titel Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, Stuttgart 2002.
  4. Vgl. Franco Volpi: Der Status der existenzialen Analytik. In: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 30f
  5. Zitiert nach Christoph Demmerling: Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein. In: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 90
  6. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt am Main 1977, S. 210.
  7. Zitiert nach Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott., München 1988, S. 245.
  8. Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 164 ff., Tübingen: Mohr
  9. Vgl. Luc Ferry / Alain Renaut: Heidegger et les Modernes, Paris, 1988
  10. Vgl. beispielsweise Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmung. 1941.
  11. Ernst Tugendhat, Aufsätze 1992-2000, 1. Aufl. 2001, S. 189, Frankfurt: Suhrkamp
  12. Vgl. Hans Ebeling: Martin Heidegger. Philosophie und Ideologie. Rowohlt TB-V., Reinbek 1991, S. 42ff
  13. Vgl. Hubert Dreyfus: Being-in-the-World. A commentary on Heidegger’s Being and Time. Cambridge 1991, S. 154 ff.
  14. Vgl. Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, Stuttgart 1994, Fußnote 32.
  15. Vgl. Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Stuttgart 1994, S. 210
  16. Vgl. Romano Pocai: Die Weltlichkeit der Welt und ihre abgedrängte Faktizität. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 55f
  17. Vgl. Romano Pocai: Die Weltlichkeit der Welt und ihre abgedrängte Faktizität. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 64
  18. Vgl. Byung-Chul Han: Todesarten. Philosophische Untersuchungen zum Tod. Fink, München 1998, S. 70–73.
  19. Vgl. Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit. Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988, S. 190-269
  20. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen 2006, S. 341.
  21. Vgl. Thomas Rentsch: Zeitlichkeit und Alltäglichkeit. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 203.
  22. Vgl. Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften. IV S. 20, 22; VIII S. 40, 232, 243f., 355f., 388, Frankfurt am Main 1980ff.
  23. Reinhardt Grossmann, Die Existenz der Welt – Eine Einführung in die Ontologie, 2. Aufl. 2004, S. 149 f., Frankfurt: Ontos
  24. Vgl. Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. Fink, München 1992.
  25. Etwa in: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Reclam 2002, ISBN 3-15-018250-6.

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