Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi

Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi

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Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi
Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (2007)
Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (2007)
Lage
Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi (Japan)
Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi
Koordinaten 37° 25′ 17″ N, 141° 1′ 57″ O37.421388888889141.0325Koordinaten: 37° 25′ 17″ N, 141° 1′ 57″ O
Land: JapanJapan Japan
Daten
Eigentümer: Tōkyō Denryoku
Betreiber: Tōkyō Denryoku
Projektbeginn: 1966
Kommerzieller Betrieb: 26. März 1971

Stillgelegte Reaktoren (Brutto):

4  (2.812 MW)

Planung eingestellt (Brutto):

2  (2.760 MW)
Eingespeiste Energie im Jahre 2009: 29.891 GWh
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme: 877.692 GWh
Website: www.tepco.co.jp
Stand: 21. März 2011
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation.

Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, Fukushima Dai-ichi oder Fukushima I ([ɸɯˈkɯɕima], jap. 福島第一原子力発電所, Fukushima Dai-ichi Genshiryoku Hatsudensho - Aussprache?/i, „Kernkraftwerk Fukushima Nr. 1“) war mit sechs Reaktorblöcken und bis zu 4,5 Gigawatt elektrischer Nettoleistung eines der leistungsstärksten Kernkraftwerke in Japan. Es befindet sich unmittelbar am Pazifik in der Präfektur Fukushima, 250 Kilometer nordöstlich von Tokio. Die Reaktorblöcke 1 bis 4 liegen auf dem Gebiet der Ortschaft Ōkuma, Block 5 und 6 gehören zum nördlich anschließenden Futaba.

Fukushima Daiichi wurde ab 1971 in Betrieb genommen und ist damit das älteste Kernkraftwerk der ehemals staatlichen Tōkyō Denryoku (Tokyo Electric Power Company – TEPCO), die auch das zwölf Kilometer südlich gelegene Kernkraftwerk Fukushima-Daini (Fukushima II) betreibt.

Die Unfallserie im März 2011 beschädigte die Reaktorblöcke 1 bis 4 so stark, dass sie aufgegeben werden mussten.[1] Die japanische Regierung will das Kraftwerk vollständig stilllegen.[2]

Inhaltsverzeichnis

Bauweise

Luftaufnahme von 1975, Reaktorblöcke 4 bis 1 (v.r.n.l.) links im Bild, Block 5 rechts, daneben Block 6 im Bau

Jeder der sechs Kraftwerksblöcke basiert auf einem Siedewasserreaktor der dritten bis fünften Generation einer von General Electric entworfenen Baureihe (BWR/3, BWR/4 oder BWR/5). Block 4 wurde von Hitachi gebaut, alle übrigen von General Electric und/oder Toshiba.[3] Die Reaktorkerne der Blöcke 1-5 befinden sich in einem als Mark I bezeichneten Sicherheitsbehälter (Containment) der ersten Generation von General Electric, und dieser wiederum zusammen mit anderen Systemen im Reaktorgebäude; meerseitig schließt sich jeweils ein Gebäude mit den Turbinen zur Stromerzeugung an. In Block 6 kam ein weiterentwickelter Sicherheitsbehälter des Typs Mark II zum Einsatz. Der Bau von zwei zusätzlichen fortgeschrittenen Siedewasserreaktoren war geplant.

An der Hülle von Reaktorblock 1 ist die Grenze zwischen Beton- und aufgesetzter (zweiteiliger) Stahl­kon­struktion deutlich zu erkennen.

Das Reaktorgebäude eines Blocks besteht großteils aus einer Betonkonstruktion, die den Reaktorkern und das Mark I/II-Containment umhüllt (siehe Abbildung im Abschnitt „Lagerung von Brennelementen“). Die Betonwände dienen primär der Abschirmung von Gamma-Strahlung (biologischer Schild) sowie dem Schutz der inneren Installationen vor äußeren mechanischen Einflüssen. Im oberen Bereich der Betonkonstruktion befinden sich unter anderem ein Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente und ein Lagerbecken für neue Brennelemente. Ein Verladeschacht führt nach unten ins Erdgeschoss.

Der obere Teil des Gebäudes ist eine Stahlkonstruktion. Hier befindet sich ein Arbeitsbereich (refueling floor) mit einem Verladekran zum Befüllen des Reaktorkerns mit Brennelementen. Betonkonstruktion und Stahlhülle bilden den zweiten Sicherheitsbehälter (secondary containment).[4]

Die Anlage bezieht ihr Kühlwasser aus dem Meer und hat insgesamt eine Fläche von etwa 3,5 km². Die Blöcke 1/2, 3/4 und 5/6 bilden jeweils eine bauliche Einheit. Ab dem 21. August 2010 waren in Block 3 neben 516 Uran-Brennelementen auch 32 sogenannte MOX-Brennelemente mit einer Mischung aus Uranoxid und Plutoniumoxid im Einsatz.[5][6]

Auf dem Gelände befinden sich unter anderem auch mehrere Lager für radioaktive Abfälle, ein Verwaltungsgebäude, verschiedene Einrichtungen zur Umweltüberwachung und ein Sportplatz.[7]

Daten der Reaktorblöcke

Reaktor­block[8] Reaktortyp,
-kern (Containment)
Hersteller Netto-
leistung
Brutto
leistung
thermische Leistung Baubeginn Netzsynchro-
nisation
Betrieb
Fuku­shima I-1 Siede­wasser­reaktor
BWR/3 (Mark I)
General Electric 439 MW 460 MW 1380 MW 28. Juli 1967 17. November 1970 26. März 1971 - 11. März 2011 [f1]
Fuku­shima I-2 Siede­wasser­reaktor
BWR/4 (Mark I)
General Electric / Toshiba 760 MW 784 MW 2381 MW 9. Juni 1969 24. Dezember 1973 18. Juli 1974 - 11. März 2011
Fuku­shima I-3 Siede­wasser­reaktor
BWR/4 (Mark I)
Toshiba 760 MW 784 MW 2381 MW 28. Dezember 1970 26. Oktober 1974 27. März 1976 - 11. März 2011
Fuku­shima I-4 Siede­wasser­reaktor
BWR/4 (Mark I)
Hitachi 760 MW 784 MW 2381 MW 12. Februar 1973 24. Februar 1978 12. Oktober 1978 - 30. November 2010
Fuku­shima I-5 Siede­wasser­reaktor
BWR/4 (Mark I)
Toshiba 760 MW 784 MW 2381 MW 22. Mai 1972 22. September 1977 18. April 1978 - (unklar) [f2]
Fuku­shima I-6 Siede­wasser­reaktor
BWR/5 (Mark II)
General Electric / Toshiba 1067 MW 1100 MW 3293 MW 26. Oktober 1973 4. Mai 1979 24. Oktober 1979 - (unklar) [f2]
Fuku­shima I-7[9] Fort­geschrittener Siede­wasser­reaktor Toshiba 1325 MW 1380 MW aufgegeben [f3]
Fuku­shima I-8[9] Fort­geschrittener Siede­wasser­reaktor Toshiba 1325 MW 1380 MW aufgegeben [f3]

[f1] Reaktorblock 1 sollte Anfang 2011 stillgelegt werden. Im Februar 2011 hatte die Japanische Atomaufsichtsbehörde NISA die Laufzeit jedoch um zehn Jahre verlängert.[10]

[f2]Die Reaktorblöcke 5 und 6 sind nach Angaben des Betreibers noch funktionsfähig.[11] Nach bisheriger Planung sollten sie noch bis 2018 bzw. 2019 weiter laufen.[12][13] Die japanische Regierung möchte die Anlage vollständig stilllegen, kann dazu aber noch keine abschließende Aussage treffen.[14] Daher ist das Laufzeitende dieser beiden Blöcke bis auf Weiteres unklar, auch wenn ihre erneute Inbetriebnahme entsprechend den Aussagen von Regierungssprecher Yukio Edano äußerst unwahrscheinlich ist.[14]

[f3] Die Reaktorblöcke 7 und 8 sollten ab 2012 von Toshiba gebaut werden.[15] Im Mai 2011 gab Tepco diese Planung auf und nannte als Grund Vorbehalte der örtlichen Bevölkerung.[1]

Lagerung von Brennelementen

Aufbau eines Reaktorgebäudes mit Mark-I-Sicherheits­behälter, Abklingbecken blau dargestellt

Innerhalb der Anlage existieren sieben Abklingbecken zur Zwischenlagerung verbrauchter (abgebrannter) Brennelemente. Je eines dieser Becken befindet sich im zweiten bis dritten Obergeschoss des jeweiligen Reaktorgebäudes; sie sind weder durch den primären Sicherheitsbehälter noch durch die Betonhülle des sekundären Sicherheitsbehälters geschützt. Ihre Gesamtkapazität beläuft sich auf 8.310 Brennelemente. Daneben enthält jedes Reaktorgebäude auch ein Lagerbecken für neue Brennelemente. Zudem gibt es seit 1997 direkt neben Reaktorblock 3 und 4 ein separates Abklingbecken für maximal 6.840 Brennelemente. Außerdem können seit 1995 bis zu 900 weitere Elemente in speziellen Behältern trocken gelagert werden.[16][17][18]

Nach Angaben des Betreibers waren die sechs Abklingbecken der Reaktorblöcke im März 2010 zu 41 % genutzt, das separate Becken zu 92 % und die Trockenlagerung zu 45 %. Die gelagerte Brennstoffmenge wurde mit insgesamt 10.149 Brennelementen bzw. 1760 Tonnen Uran angegeben, die Neuproduktion abgebrannter Elemente mit etwa 700 pro Jahr.[17] Somit lagerten im März 2010 rechnerisch die verbrauchten Brennelemente aus 14 ½ Jahren Betrieb auf dem Kraftwerksgelände.

Im März 2011 lagerten auf dem Gelände des Kraftwerks insgesamt rund 14.700 Brennelemente mit einer Masse an Kernbrennstoff von rund 2.500 Tonnen. In den Reaktorkernen und den einzelnen Becken befand sich folgende Anzahl an Brennelementen:[19][20][21][22]

Lagerort Brennelemente
im Reaktorkern
Brennelemente
im Abklingbecken
unbenutzte
Brennelemente
Volumen des
Abklingbeckens
Block 1 400 292 100 1.020 m³
Block 2 548 587 28 1.425 m³
Block 3 548 514 52 1.425 m³
Block 4 0 1.331 204 1.425 m³
Block 5 548 946 48 1.425 m³
Block 6 764 876 64 1.497 m³
separates Becken 6.375 [23] 3.828 m³
Summe 2.808 10.921 496 12.045 m³

Ein einzelnes Brennelement besteht aus ungefähr 60 Brennstäben und wiegt je nach Reaktor etwa 170 bis 173 kg.[20]

Risiken des Kraftwerkstyps

Der Sicherheitsbehälter Mark I von General Electric, der in Fukushima I verwendet wurde, hat nach Ansicht verschiedener Experten ein unzureichendes System zur Vermeidung eines Druckaufbaus innerhalb des Sicherheitsbehälters. Ein Sicherheitsexperte der Atomic Energy Commission (AEC) der USA forderte deshalb 1971, den Einbau dieses Systems zu beenden und zu verbieten. Ein Verbot lehnte die AEC-Führung 1972 ab, da es die Atomindustrie der USA beenden könne. 1976 kündigten drei hochrangige Ingenieure bei General Electric wegen Sicherheitsbedenken zu Mark I.[24] Einer davon, Dale Bridenbaugh, hielt die Auslegung des Mark I bei schweren Unfällen für unzureichend, regte einen Baustop während der Fehleranalyse an und kündigte, nachdem General Electric diesen ablehnte. Seines Wissens habe man die von ihm aufgewiesenen Design-Mängel in Fukushima I jedoch berücksichtigt. Der Sicherheitsbehälter sei keine direkte Unfallursache, aber in dem eingetretenen Fall von Erdbeben und Tsunami weniger „vergebend“ (nachgiebig) als andere Reaktorentypen gewesen.[25]

1985 stellte die für Kernkraftsicherheit in den USA zuständige Nuclear Regulatory Commission (NRC) fest, dass der Mark I in den ersten Stunden nach einer Kernschmelze versagen würde; ein NRC-Vertreter hielt dieses Versagen 1986 für zu 90 % wahrscheinlich. Daraufhin wurde ein Ventilsystem entwickelt und in alle Mark-I-Behälter eingebaut, das es erlaubt, radioaktiven Wasserdampf ungefiltert in die Atmosphäre zu entlassen.[26]

Filmemacher Adam Curtis hatte in einer Dokumentationsserie der BBC 1992 auf Risiken im Kühlsystem von Siedewasserreaktoren wie denen in Fukushima I hingewiesen[27], die seit 1971 bekannt waren.[28]

Die Bauweise des in Fukushima I übernommenen Kraftwerksdesigns, bei dem sich jeweils ein Abklingbecken neben dem Sicherheitsbehälter befindet, wird seit den Unfällen vom März 2011 verstärkt kritisiert, da sie die Gefahr von Beschädigungen und radioaktiven Emissionen erheblich vergrößere.[29] In Fukushima wurden diese Becken übermäßig für die Lagerung alter Brennelemente genutzt. Japanische Atomaufseher hielten dies für eine Fehlentscheidung; Investitionen in sicherere Möglichkeiten der Unterbringung seien unterlassen worden.[30]

Konstruktionsmängel des Kraftwerks

Nach den Unfällen im März 2011 wurden verschiedene Konstruktionsmängel dieses Kraftwerks bekannt, auf die Ingenieure, Seismologen und Aufsichtsbehörden seit langem hingewiesen hatten.

Nach Aussage des Ingenieurs Shiro Ogura, der am Bau von fünf der sechs Blöcke beteiligt war, wurden die für US-Standorte konzipierten Baupläne von General Electric beim Bau von Reaktorblock 1 ab 1967 unkritisch übernommen. Erst bei den weiteren Reaktorblöcken habe man diese Bauweise den japanischen Gegebenheiten angepasst. Auch dabei habe man die Gefahr von Tsunamis an diesem Küstenstandort nicht berücksichtigt[31]. Erst 2007 habe man diese in Betracht gezogen und die Konstruktionsvorgaben überarbeitet. Die Kühlsysteme seien jedoch nach Vorgaben der Betreiberfirma nur für Erdbeben von maximal Stärke 8 ausgelegt worden. Ein stärkeres Erdbeben habe niemand für möglich gehalten. Mangelnde Sicherheitsvorkehrungen habe er nie kritisiert.

Laut dem am Bau beteiligten Ingenieur Masashi Goto war das Notkühlsystem des Kraftwerks nicht als Sicherungssystem konzipiert. Man habe Ventile und Rohre nicht auf den erhöhten Druck bei einem Unfall ausgelegt, so dass schon zu Beginn der Unfallserie vom März 2011 Radioaktivität entwichen sei.[32]

Der Ingenieur Mitsuhiko Tanaka war 1974 am Bau eines Stahldruckkessels für Hitachi führend beteiligt, der sich heute im Reaktorblock 4 befindet. Er erklärte im März 2011, der Kessel habe sich bei der Herstellung verzogen. Er habe geholfen, dies zu vertuschen, um die gesetzlich verlangte Verschrottung des 250 Millionen US-Dollar teuren Kessels zu umgehen. Dafür habe er einen hohen Jahresbonus und eine Verdienstmedaille von der Firma erhalten. 1988, zwei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl, habe er den Konstruktionsfehler des Kessels der Regierung Japans gemeldet. Hitachi habe seinen Bericht bestritten, und die Regierung habe eine Untersuchung abgelehnt. Seit einem Treffen mit Tanaka 1988 hielt Hitachi daran fest, dass der Kessel kein Sicherheitsproblem darstelle.[33][34]

Beim Bau von Fukushima I wurden die Notstromgeneratoren im Untergeschoss der Turbinengebäude auf der Meerseite der Reaktorgebäude angebracht.[35] Diese Turbinengebäude waren nicht ausreichend wassergeschützt, so dass der Tsunami die Notstromgeneratoren darin überschwemmte und sie ebenso wie die Meerwasser-Kühlpumpen ausfielen. Beide waren anders als in später errichteten Kraftwerken an der ungeschützten Stelle verblieben, obwohl eine Tepco-interne Untersuchung dies als Sicherheitsrisiko einschätzte. Nach Aussagen früherer Tepco-Mitarbeiter wurde ihre Platzierung in den 1970er und 1980er Jahren nicht berücksichtigt, als der Erdbebenschutz der Reaktorgebäude verbessert wurde, da diese keinen Platz zur Aufnahme der Notstromgeneratoren hatten. Auch die Kühlpumpen hätte man nur zusammen mit verschiedenen Rohren darunter verlegen können. Die dazu nötigen Umbaumaßnahmen habe damals niemand erwogen; sie seien aus Kostengründen und um keine Fehlentscheidung eingestehen zu müssen unterblieben. Fukushima I sei ein „Übungskurs für Toshiba und Hitachi gewesen, um auf der Basis von Versuch und Irrtum General Electrics Kraftwerksdesign kennenzulernen“.[36]

Mangelnder Schutz vor Erdbeben und Tsunamis

Die NRC warnte 1990 auch vor dem Ausfall von Notstromgeneratoren und damit der Kühlsysteme von Kraftwerken, die in für Erdbeben anfälligen Gebieten stehen. Sie bezeichnete diesen Ausfall als eins der wahrscheinlichsten Risiken. Die NISA zitierte diesen Bericht 2004. Laut Jun Tateno, einem früher zur Japanischen Atomenergie-Agentur gehörigen Wissenschaftler, habe Tepco nicht auf diese Warnungen reagiert und keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen. Deshalb könne man die außergewöhnliche Stärke des Erdbebens vom März 2011 nicht als Entschuldigung gelten lassen.[37]

2005 und 2007 kam es zu Störfällen in drei japanischen Kernkraftwerken durch Erdbeben, deren Stärke bei der Auslegung von Reaktoren nicht einkalkuliert worden war. Der Seismologe Ishibashi Katsuhiko analysierte diese Fälle und warnte 2007 vor der „fundamentalen Verletzbarkeit“ japanischer Kernkraftwerke bei Erdbeben, deren zunehmende Stärke und Häufigkeit beim Bau vieler Kraftwerke in den 1970er Jahren schwer unterschätzt worden sei.[38] Katsuhiko mahnte damals fundamentale Verbesserungen der Sicherheitsstandards für japanische Kernkraftwerke an. Nach den Unfällen 2011 kritisierte er, die Atompolitik habe seit 2007 nichts dazugelernt. Auch die japanische Energiewirtschaft und akademische Elite hätten die Warnungen ignoriert. Laut General Electric sollen jedoch alle sechs Reaktoren die Sicherheitsanforderungen der Nuclear Regulatory Commission für Erdbeben erfüllt haben.[39]

Nach dem Erdbeben vom 16. Juli 2007 mit der Stärke 6,6 hatte Tepco die Standorte seiner Kraftwerke geologisch prüfen lassen, um ihre Belastbarkeit bei Erdbeben und Tsunamis festzustellen. Infolge dieser Prüfung wurde bei Fukushima I eine Schutzmauer von 5,7 m Höhe gegen Tsunamis errichtet. Einige Notstromgeneratoren befanden sich jedoch auf Bodenhöhe direkt am Meeresufer und waren unzureichend vor Überflutung geschützt. Für Atomsicherheitsexperten weist dies darauf hin, dass Tepco zwar die Reaktorgebäude sicher genug gebaut, aber den möglichen Ausfall der Notstromgeneratoren durch Tsunamis nicht berücksichtigt hat.

Der am Bau der Fukushima-I-Reaktoren beteiligte Ingenieur Masashi Goto erklärte, die Sicherheitsrichtlinien der Regierung hätten keinen Ersatz für den Ausfall von Notstromgeneratoren verlangt. Sie hätten von den Firmen nur eine freiwillige Anstrengung erbeten, die Containment-Kessel erdbebensicher zu bauen. Sie hätten nie mit einem Worst-case--Szenario gerechnet. Die Atomsicherheitskommission Japans hatte 2009 gefordert, bei jedem Kernkraftwerk eine stationäre Feuerwehr bereitzuhalten, um Feuer nach Erdbeben sofort bekämpfen zu können.[40]

Tatsuya Ito, ein früherer Abgeordneter der Präfektur Fukushima im Nationalparlament, erklärte, er habe den Firmenvorstand von Tepco seit 2003 mindestens 20 Mal bei direkten Treffen vor der Tsunamigefahr gewarnt. 2002 habe ein von der Firma selbst angeforderter Bericht der Japan Society of Civil Engineers das Szenario eines Tsunamis nach einem Erdbeben der Stärke 9,5 beschrieben. 2005 habe er deshalb an den Präsidenten von Tepco einen Brief geschrieben. Die Firma habe jedoch alle Warnungen missachtet.[41]

Der Seismologe Yukinobu Okamura, Leiter des Erdbebenforschungszentrums (Active Fault and Earthquake Research Center) am AIST, hatte ein Regierungsgremium 2009 vor einem verheerenden Tsunami wie jenem aus dem Jahre 869 gewarnt, doch Tepco lehnte die Warnung „als zu wenig fundiert“ ab.[42][43]

Bei einer parlamentarischen Anfrage am 26. Mai 2010 hatte NISA-Vertreter Nobuaki Terasaka eingeräumt, dass ein kompletter Stromausfall die Reaktorkerne partiell schmelzen lassen und so die Kühlung ihrer Kernbrennstäbe unmöglich machen könne. Daher hätten die Betreiber die Kraftwerke mit vielen Ersatzstromquellen gesichert, die einen Stromausfall innerhalb weniger Stunden kompensieren sollten. Jun Tateno erklärte dazu, mit einem besseren Schutz dieser Ersatzgeneratoren auch gegen außergewöhnlich starke Erdbeben und hohe Tsunamis wären die Unfälle vom März 2011 vermeidbar gewesen.[44]

Störfälle und mangelnde Kontrollen

2002 wurde bekannt, dass Firmenvertreter über 16 Jahre lang Reparaturberichte über Tepcos Kernkraftwerke gefälscht und den Aufsichtsbehörden in hunderten Fällen sicherheitsrelevante Vorfälle verschwiegen hatten. Daraufhin gab der Vorstand von Tepco die Fälschungen zu, trat zurück und wurde von der Regierung ersetzt. Alle Tepco-Kernkraftwerke wurden heruntergefahren und drei Wochen lang überprüft. Am 16. Mai 2003 wurde Fukushima I erneut angefahren.[45]

Seit dem Vorstandswechsel 2002 kam es in Fukushima I zu mindestens sechs Notabschaltungen und einer siebenstündigen kritischen Reaktion in Reaktorblock 3. Auch diese Vorfälle wurden verschwiegen.[46]

Am 25. Mai 2008 versagten bei einem Test in Reaktorblock 6 mehrere Notkühlsysteme. Die NISA stufte den Vorfall als „Störung“ (Stufe 1) auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse ein.[47]

Wie am 21. März 2011 bekannt wurde, hatte die NISA am 1. März Tepco erhebliche Mängel bei Inspektion und Wartung nachgewiesen: 33 Geräte und Maschinen in Fukushima I, darunter die Kühlpumpen, Dieselgeneratoren und Temperaturkontrollventile der Reaktorblöcke, waren seit elf Jahren nicht sorgfältig kontrolliert worden.[48][49] Die NISA hatte Tepco eine Frist bis zum 2. Juni 2011 gesetzt, um einen Korrekturplan auszuarbeiten.[50]

Unfälle ab dem 11. März 2011

Zustand der Reaktorblöcke 1 bis 4 (von rechts nach links) am 16. März 2011 nach mehreren Explosionen und Bränden

Infolge des Tōhoku-Erdbebens am 11. März 2011 und des folgenden Tsunamis fiel die elektrische Energieversorgung des Kraftwerks aus, so dass die Reaktorkerne und gelagerten Brennstäbe mangelhaft gekühlt wurden. Dies führte zu einer Unfallserie, bei der die Reaktorblöcke 1 bis 4 zerstört und erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt wurden. Zwei Arbeiter im Kraftwerk starben durch das Erdbeben;[51] mindestens hundert erhielten Strahlenbelastungen über 100 Millisievert.[52]

Zunächst wurde ein Gebiet im Umkreis von zwanzig Kilometern mit 70.000 bis 80.000 Anwohnern evakuiert, später noch einige weiter entfernte Orte mit besonders hoher radioaktiver Belastung. Landwirtschaftliche Erzeugnisse, Böden, Leitungswasser, Meerwasser und Meerestiere im weiten Umkreis wurden mit radioaktiven Stoffen kontaminiert; teilweise wurden dabei die gesetzlichen Grenzwerte um ein Vielfaches überschritten.

Im Verlauf der Unfallserie stufte die japanische Atomaufsichtsbehörde die Vorfälle in den Reaktorblöcken 1 bis 3 auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse zunächst vorläufig als Stufe 4 („ernster Störfall“) und dann als Stufe 5 („ernster Unfall“) ein. Später kam sie auf Grundlage der geschätzten Menge an freigesetzten radioaktiven Stoffen zu einer – immer noch vorläufigen – Einordnung in die Höchststufe 7 („katastrophaler Unfall“).[53]

Fotos

Siehe auch

Weblinks

 Commons: Kernkraftwerk Fukushima I – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikinews Wikinews: Kernkraftwerk Fukushima I – in den Nachrichten

Einzelnachweise

  1. a b Decommissioning of Fukushima Daiichi Nuclear Power Station Units 1 to 4 and Abolishment of Construction Plans for Units 7 and 8 (englisch). Tepco (20. Mai 2011). Archiviert vom Original am 21. Mai 2011. Abgerufen am 21. Mai 2011.
  2. Fukushima nuclear plant to be decommissioned: Gov't. Kyodo News, 20. März 2011, abgerufen am 21. März 2011 (englisch).
  3. Übersichtstabelle der GRS, abgerufen am 7. April 2011
  4. Analyse von Sicherheitsbehältern von M. Ragheb, NUCLEAR, PLASMA AND RADIOLOGICAL ENGINEERING, University of Illinois at Urbana-Champaign, abgerufen am 19. April 2011
  5. MOX fuel loaded into Tokyo Electric's old Fukushima reactor. Japan Today, 22. August 2010, archiviert vom Original am 2. Mai 2011, abgerufen am 13. März 2011 (englisch).
  6. Nachweis von Plutonium auf dem Gelände des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi. GRS. Archiviert vom Original am 9. April 2011. Abgerufen am 4. April 2011.
  7. April 7th, 2011 Fukushima Dai-ichi Monitoring Data. 7. April 2011, archiviert vom Original am 10. April 2011, abgerufen am 10. April 2011 (englisch, Geländeplan auf Seite 6).
  8. Japan: Nuclear Power Reactors – Alphabetic. In: Power Reactor Information System. IAEA, abgerufen am 12. März 2011 (englisch).
  9. a b Nuclear Power in Japan. World Nuclear Association, 24. Februar 2011, abgerufen am 18. März 2011 (englisch).
  10. Mari Yamaguchi, Jeff Donn: Japan quake causes emergencies at 5 nuke reactors. In: Forbes Magazine. Associated Press, 11. März 2011, abgerufen am 13. März 2011 (HTML, englisch).
  11. Krisenmanagement bleibt chaotisch. ORF, 30. März 2011, archiviert vom Original, abgerufen am 22. Mai 2011: „Die zwei anderen Reaktoren seien noch operationsfähig.“
  12. NUKE DATABASE SYSTEM: FUKUSHIMA DAIICHI-5. Izobraževalni center za jedrsko tehnologijo, abgerufen am 14. März 2011 (englisch).
  13. NUKE DATABASE SYSTEM: FUKUSHIMA DAIICHI-6. Izobraževalni center za jedrsko tehnologijo, abgerufen am 14. März 2011 (englisch).
  14. a b Fukushima nuclear plant to be decommissioned: Gov't. Kyodo News, 20. März 2011, abgerufen am 21. März 2011 (englisch).
  15. Toshibas Nuclear Enery Activities. Toshiba (11. Dezember 2010). Abgerufen am 5. April 2011.
  16. Reactor Concepts Manual – Boiling Water Reactor (BWR) Systems. Abgerufen am 19. März 2011 (pdf, englisch).
  17. a b Integrity Inspection of Dry Storage Casks and Spent Fuel at Fukushima Daiichi Nuclear Power Station (Englisch) (PDF) (16. November 2010). Abgerufen am 16. März 2011. „Approx. 700 spent fuel assemblies are generated every year.“ Angaben zur Trockenlagerung ab Seite 12
  18. Kurzübersicht aktuelle Sicherheitslage. 19. März 2011, abgerufen am 19. März 2011 (pdf).
  19. More on Spent Fuel Pools at Fukushima (englisch). All Things Nuclear (21. März 2011). Archiviert vom Original am 9. April 2011. Abgerufen am 22. März 2011.
  20. a b Technische Daten Fukushima Nr. 1 im Normalbetrieb (pdf). GRS. Archiviert vom Original am 7. April 2011. Abgerufen am 7. April 2011.
  21. Kurzübersicht aktuelle Sicherheitslage (pdf). Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (19. März 2011). Archiviert vom Original am 9. April 2011. Abgerufen am 19. März 2011.
  22. Fukushima Nuclear Accident Update Log (englisch). IAEA (22. März 2011). Archiviert vom Original am 8. April 2011. Abgerufen am 4. April 2011.
  23. Fukushima Accident 2011 (englisch) (2. April 2011). Archiviert vom Original am 4. April 2011. Abgerufen am 4. April 2011.
  24. Paul Gunter, März 1996, Michael Mariotte, März 2011 (Nuclear Information and Resource Service): Hazards of Boiling Water Reactors in the Unites States
  25. Newsdaily/Reuters, 15. März 2011: Japan reactor design caused GE engineer to quit
  26. Paul Gunter, März 1996, Michael Mariotte, März 2011 (Nuclear Information and Resource Service): Hazards of Boiling Water Reactors in the Unites States
  27. Adam Curtis: A Is For Atom. In: bbc.co.uk. British Broadcasting Corporation, 16. März 2011, abgerufen am 2. April 2011 (englisch, Film Pandoras Box, Teil 6).
  28. Ralf Streck (22. März 2011): Notkühlprobleme von Fukushima-Reaktoren seit 1971 bekannt. Telepolis. Heise Zeitschriften Verlag. Archiviert vom Original am 1. April 2011. Abgerufen am 1. April 2011.
  29. Christoph Seidler (Der Spiegel, 16. März 2011): Abklingbecken deutscher Meiler: Gefahr in Kobaltblau
  30. Kevin Krolicki, Ross Kerber (Reuters/The West, 22. März 2011): Special Report: Fuel storage, safety issues vexed Japan plant
  31. Tepcos eigene Sicherheitsdarstellung erwähnt Tsunamis mit keinem Wort.
  32. Süddeutsche Zeitung, 19. März 2011: Kopflos in die Katastrophe
  33. Jason Clenfield (Bloomberg, 18. März 2011): Japan Disaster Caps Decades of Faked Reports, Accidents
  34. Japan Times, 24. März 2011: Defect concealed in Fukushima No. 4 reactor
  35. The 2011 off the Pacific coast of Tohoku Pacific Earthquake and the seismic damage to the NPPs. NISA, 4. April 2011, archiviert vom Original am 13. April 2011, abgerufen am 13. April 2011 (pdf, englisch, Lage und Überflutung der Generatoren unter 3-2. Major root cause of the damage, pdf S. 12).
  36. Fukushima No. 1 plant designed on 'trial-and-error' basis (englisch). Asahi Shimbun (7. April 2011). Archiviert vom Original am 13. April 2011. Abgerufen am 19. Mai 2011.
  37. Makiko Kitamura, Maki Shiraki (Bloomberg, 16. März 2011): Japan’s Reactor Risk Foretold 20 Years Ago in U.S. Agency Report
  38. The Guardian, 12. März 2011: Japan ministers ignored safety warnings over nuclear reactors
  39. Jason Clenfield (Bloomberg, 18. März 2011): Japan Disaster Caps Decades of Faked Reports, Accidents
  40. Richard Gray, Michael Fitzpatrick (Telegraph, 19. März 2011): Japan nuclear crisis: tsunami study showed Fukushima plant was at risk
  41. Makiko Kitamura, Maki Shiraki (Jakarta Globe, 18. März 2011): Tepco Ignored Warnings About Tsunami Risk, Ex-Lawmaker Says
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