Cleavage-Theorie

Cleavage-Theorie
Gesellschaftliche Konfliktlinien nach Lipset/Rokkan

Die Cleavage-Theorie ist eine politikwissenschaftliche Theorie in der Wahlforschung, die versucht, Wahlergebnisse in Europa anhand langfristiger Konfliktlinien in der Gesellschaft zu erklären (englisch cleavage, wörtlich: „Kluft“, „Spaltung“).

Entwickelt wurde die Theorie 1967 von den beiden Politikwissenschaftlern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan. Die Cleavage-Theorie ist eine der wichtigsten Theorien zur Erklärung nationaler Parteiensysteme. Auf Grund der politischen Umbrüche der letzten zwanzig Jahre sind viele Wissenschaftler allerdings der Meinung, dass ihre Erklärungskraft in heutigen Situationen nur noch bedingt gilt.

Der Cleavage-Theorie zufolge entwickelten sich die Parteiensysteme Ende des 19. Jahrhunderts anhand vier grundsätzlicher Konfliktlinien. Die Konfliktlinien sind dauerhaft und spiegeln Interessen- oder Wertkonflikte verschiedener organisierter sozialer Gruppen wider. Die Organisationen dieser sozialen Gruppen bauten Verbindungen zu bestimmten politischen Entscheidungsträgern auf, wobei aus diesen Verbindungen langfristig die politischen Parteien entstanden:

Kapital gegen Arbeit
Entstand im Laufe des Industrialisierungsprozesses (Industriekonflikt).
Kirche gegen Staat
Entstand durch die Säkularisierung und den Konflikt über die Kontrolle der Schulbildung, Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich 1905 und den Kulturkampf in Deutschland in den 1870er Jahren (Kulturkonflikt).
Stadt gegen Land
Entstand ebenfalls im Industrialisierungsprozess, Konfliktlinie verläuft zwischen dem primären und sekundären Wirtschaftssektor.
Zentrum gegen Peripherie
Entstand durch den Reformationskonflikt während der Nationalstaatsbildung zwischen autonomen regionalen und zentral-nationalen Entscheidungsinstanzen.

Der Cleavage-Ansatz ist ein erfolgreiches Instrument, um die Entstehung der Parteisysteme in den europäischen Industriestaaten zu erklären. In einer Phase großer Stabilität der Mehrheitsverhältnisse der Parteien in den demokratischen Staaten besaß er eine hohe Erklärungskraft. Seit den 1980er Jahren lässt sich allerdings ein Umbruch in den Parteiensystemen verzeichnen, wobei die langfristige Bindung an bestimmte Parteien empirisch nachweisbar immer geringer wird. Dies sind Effekte, die sich mit der Cleavage-Theorie nur schwer in Übereinstimmung bringen lassen. Ebenfalls lassen sich mit der Cleavage-Theorie nicht die sinkenden Wahlbeteiligungen sowie Protestwahlverhalten erklären. Rechtspopulistische oder ökologische Parteien fallen genauso aus dem Erklärungsrahmen.

In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren der Theorie zufolge die beiden Konfliktlinien Staat gegen Kirche und Arbeit gegen Kapital prägend. Im Konflikt zwischen Staat und Kirche ging es insbesondere um die Frage, welche von beiden Institutionen die Deutungshoheit in der Schulbildung besaß. Während die Unionsparteien und vor allem die Deutsche Zentrumspartei religiös gebundene Konfessionsschulen bevorzugten, waren SPD, FDP und KPD für staatliche und religiös unabhängige Schulen. Schlussendlich setzte sich die Trennung von Staat und Kirche weitgehend durch, auch wenn einzelne Konfessionsschulen bis heute erhalten blieben.

Die FDP und die CDU vertraten hingegen ähnliche Ansichten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, während die SPD (und bis zu ihrem Verbot auch die KPD) sich, besonders in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, als reine Partei der Arbeiter verstand. Das Zentrum war diesbezüglich gespalten. Das wirtschafts- und sozialpolitische Modell der „bürgerlichen“ Parteien, die soziale Marktwirtschaft, verdrängte die sozialistischen Ideen größtenteils. Dies erkannte die SPD im Godesberger Programm von 1959 weitgehend an.

Mit dem Aufkommen der Grünen in den 1980ern entwickelte sich eine neue Konfliktlinie zwischen den so genannten postmateriellen Werten und den klassischen politischen Werten. Wenn auch abgeschwächt, sind diese Konfliktlinien auch in der heutigen politischen Diskussion noch klar erkennbar, u. a. bei der Reform der Sozialsysteme (Kapital gegen Arbeit), der Föderalismusreform und der Dezentralisierungspolitik in Frankreich, Italien und Großbritannien (Zentrum gegen Peripherie) oder im Umgang mit der religiösen Konfrontation mit dem Islam (Kirche gegen Staat).

Siehe auch: Parteienforschung

Literatur

  • Seymour Martin Lipset, Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction. In: dies. (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives. Free Press, New York 1967, S. 1–64

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Cleavage — Gesellschaftliche Konfliktlinien nach Lipset/Rokkan Die Cleavage Theorie ist eine politikwissenschaftliche Theorie in der Wahlforschung, die versucht, Wahlergebnisse in Europa anhand langfristiger Konfliktlinien in der Gesellschaft zu erklären… …   Deutsch Wikipedia

  • Konfliktlinien — Gesellschaftliche Konfliktlinien nach Lipset/Rokkan Die Cleavage Theorie ist eine politikwissenschaftliche Theorie in der Wahlforschung, die versucht, Wahlergebnisse in Europa anhand langfristiger Konfliktlinien in der Gesellschaft zu erklären… …   Deutsch Wikipedia

  • Parteisystem — Das Parteiensystem eines Staates umfasst die einzelnen politischen Parteien, ihre Eigenschaften und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen. Schon zur Entstehungszeit der ersten Parteien wurden Erklärungen dafür gesucht, weshalb es… …   Deutsch Wikipedia

  • Parteiensystem — Das Parteiensystem eines Staates umfasst die einzelnen politischen Parteien, ihre Eigenschaften und das Beziehungsgeflecht zwischen ihnen. Schon zur Entstehungszeit der ersten Parteien wurden Erklärungen dafür gesucht, weshalb es… …   Deutsch Wikipedia

  • Parteien Chiles — Das Politische System des südamerikanischen Landes Chile war bis 2005 geprägt durch die Diktatur von Augusto Pinochet in den 70er und 80er Jahren: Die Verfassung von 1980 wurde unter ihm beschlossen und alle Verfassungsreformen haben die… …   Deutsch Wikipedia

  • Parteiensystem Chiles — Das Politische System des südamerikanischen Landes Chile war bis 2005 geprägt durch die Diktatur von Augusto Pinochet in den 70er und 80er Jahren: Die Verfassung von 1980 wurde unter ihm beschlossen und alle Verfassungsreformen haben die… …   Deutsch Wikipedia

  • Politisches System Chiles — Das politische System des südamerikanischen Landes Chile war bis 2005 geprägt durch die Diktatur von Augusto Pinochet in den 1970er und 80er Jahren: Die Verfassung von 1980 wurde unter ihm beschlossen und alle Verfassungsreformen haben die… …   Deutsch Wikipedia

  • Rokkan — Stein Rokkan (* 4. Juli 1921 in Vågan, Norwegen; † 22. Juli 1979 in Bergen) war ein Mitbegründer des Bereichs für Sozialwissenschaften an der Universität Bergen, Norwegen. Berufen wurde er als Professor der Soziologie. Seine Hauptaufgabe war der… …   Deutsch Wikipedia

  • Bekenntnisschule — Als Konfessionsschule oder Bekenntnisschule wird eine Schule bezeichnet, in der Schüler des gleichen religiösen Bekenntnisses unterrichtet werden. Früher galt dies uneingeschränkt. Die meisten Schulen haben sich inzwischen Schülern anderer… …   Deutsch Wikipedia

  • Lipset — Seymour Martin Lipset (* 18. März 1922 in New York; † 31. Dezember 2006 in Arlington, Virginia) war ein US amerikanischer Soziologe und Politikwissenschaftler. Seymour Martin Lipset hat 1967 zusammen mit Stein Rokkan die für die Parteienforschung …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”