Homo oeconomicus

Homo oeconomicus

Homo oeconomicus [ˈhɔmoː ɔe̯kɔˈnɔmɪkʊs] (lat. hŏmō oeconomicus ‚Wirtschaftsmensch‘) ist in der Wirtschaftswissenschaft das theoretische Modell eines Nutzenmaximierers zur Abstraktion und Erklärung elementarer wirtschaftlicher Zusammenhänge.

Inhaltsverzeichnis

Definition und Bedeutung

Der Homo oeconomicus bezeichnet einen (fiktiven) Akteur, der eigeninteressiert und rational handelt, seinen eigenen Nutzen maximiert, auf veränderliche Restriktionen reagiert, feststehende Präferenzen hat und über (vollständige) Information verfügt.[1]

Grundlage des Modells sind Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zur Lösung spezifischer Probleme, insbesondere für soziale Dilemmastrukturen wie das Eigeninteresse des Menschen.[2]

Mit dem Modell werden gesellschaftliche Makrophänomene und nicht individuelles Verhalten erklärt. Diese Erklärung wird für viele Fragestellungen, in denen widerstreitende Interessen auftreten, als sachgerechte und praktikable Vereinfachung akzeptiert. Es soll vorhergesagt werden, wie sich beispielsweise ein Geschäftsmann, ein Kunde oder sonst ein wirtschaftlich handelnder Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen (z. B. Marktbegebenheiten) verhalten wird. Damit lassen sich elementare wirtschaftliche Zusammenhänge in der Theorie durchsichtig beschreiben.

Handlungstheorien, die in ihren Grundannahmen auf das Modell des Homo oeconomicus (bzw. einer modifizierten Variante davon) aufbauen, werden als Theorie der rationalen Entscheidung bezeichnet.

Begriffsgeschichte

Der englische Ausdruck economic man findet sich erstmals 1888 in John Kells Ingrams „A History of Political Economy“; den lateinischen Term homo oeconomicus benutzte wohl zum ersten Mal Vilfredo Pareto in seinem „Manuale d’economia politica“ (1906). Eduard Spranger bezeichnete 1914 in seiner „Psychologie der Typenlehre“ den homo oeconomicus als eine Lebensform des Homo sapiens und beschrieb ihn wie folgt: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“[3] Nach Hayek hatte John Stuart Mill den homo oeconomicus in die Nationalökonomie eingeführt. [4]

Kritik und neuere Ansätze

Mit der Etablierung der Experimentellen Ökonomik wurde das Konzept des Homo oeconomicus in den vergangenen Jahren immer häufiger experimentell überprüft. Dabei zeigte sich, dass unter gewissen eng definierten Laborbedingungen dieses Konzept manchmal als eine geeignete Prognose für tatsächliches menschliches Verhalten herangezogen werden kann. In zahlreichen anderen Versuchen konnte diese Verhaltenshypothese jedoch nicht bestätigt werden. Zur Erklärung des beobachteten Laborverhaltens wird in diesen Fällen das Homo-oeconomicus-Modell häufig erweitert.

In der Neuen Institutionenökonomik, so etwa in der dortigen Transaktionskostentheorie, werden Faktoren wie asymmetrische Information, begrenzte Rationalität und Opportunismus berücksichtigt, um zu realitätsnäheren Annahmen zu gelangen.

Die Verhaltensökonomik geht davon aus, dass das beobachtete Verhalten in der Regel der Annahme des rationalen Nutzenmaximierers widerspreche, und sucht Erklärungen für vermeintlich irrationales Verhalten (vgl. Ultimatumspiel) – weiter wird die Theorie des „Homo oeconomicus“ von Gerd Gigerenzer als inadäquat und komplex angesehen, eine (Kauf)entscheidung orientiert sich viel mehr an simplen Entscheidungsbäumen[5].

In der Spieltheorie wird der homo oeconomicus verändert. Er wird nun zum strategisch handelnden Wirtschaftssubjekt, das auch kurzfristige Verluste in Kauf nimmt, wenn dies der Verfolgung eines langfristigen Ziels dient (vgl. Soziales Dilemma).

Die Evolutionsökonomik befasst sich mit beschränkt rationalen Verhaltensmustern des Menschen, deren Gründe unter anderem in der Komplexität der Entscheidungssituationen (Informationsbewertung, Bildung von Zukunftserwartungen etc.) liegen. Ralf Dahrendorf hat analog dazu für seine Rollentheorie den Begriff Homo sociologicus geprägt und verwendet.

Viele Ökonomen versuchen heute dieses ökonomische Modell weiterzuentwickeln, indem sie auch idealistische Handlungen als Nutzenmaximierung definieren.

Vom Modell losgelöste Interpretationen

Nach Andreas Novy bildet der Homo oeconomicus nicht einzig ein zentrales Theorem der neoklassischen Wissenschaftstheorie, er bilde ebenso als „Kernelement liberalen Gedankenguts (…) die Grundlage, nach dessen Vorbild Menschen gebildet und geformt werden: als eigennützige und nutzenmaximierende Wesen.“[6] Das Kalkül der Optimierung beschränke sich nicht einzig auf wirtschaftliche Bereiche, vielmehr wäre es „auf alle Felder menschlichen Handelns anwendbar“.[6]

Kritiker solcher Interpretationen wenden ein, dass das Modell des Homo oeconomicus ein rein theoretisches wäre, welches als Menschenbild oder Ideal fehlinterpretiert werde, da die Modelleigenschaften der Rationalität und die des Eigeninteresses „als Beschreibungen menschlicher Eigenschaften unabhängig vom Problem- bzw. Theoriekontext verstanden werden“.[2] Der Ökonom Fritz Machlup hat in diesem Sinne für „Schwachverständige“ vorgeschlagen, ihn besser „homunculus oeconomicus“ zu nennen, „damit sie eher begreifen, dass er keinen aus einem Mutterleib geborenen Menschen darstellen sollte, sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abstrakte Marionette, mit bloß ein paar menschlichen Zügen ausgestattet, die für bestimmte Erklärungszwecke ausgewählt wurde“.[7] Neutraler formulierte dies Herbert Giersch: „Der Homo oeconomicus stellt ein Modell vom Menschen dar, das nur zu ganz spezifischen Forschungszwecken entwickelt worden ist und nur für diese eingeschränkten Forschungszwecke mehr oder weniger tauglich sein kann.“[8] Und auch in der Wirtschaftsethik wird der Modellcharakter dieses Begriffs von Karl Homann betont: „Der Homo oeconomicus ist kein Menschenbild, sondern ein theoretisches Konstrukt zur Abbildung des Verhaltens in Dilemmastrukturen. Deshalb ist der Homo oeconomicus nicht aus der Anthropologie oder der Verhaltenswissenschaft abgeleitet, sondern aus der Problematik der Dilemmastrukturen.“[9]

Michel Foucault deutet den Homo oeconomicus als das zentrale Leitbild des Neoliberalismus, mit dem das Soziale (Ehe, Beruf, Familie usw.) als das Ökonomische gedeutet würde.[10] Ulli Guckelsberger dagegen hält diese Deutung für „völlig unzulässig“. Dies zeuge nur von „Mißverständnissen oder einem tiefen Unverständnis neoliberaler Positionen“.[11]

Homo oeconomicus in anderen Wissenschaften

In der Politikwissenschaft findet das Modell des Homo oeconomicus unter Anderem in der Entscheidungstheorie und der Neuen Politischen Ökonomie Anwendung. Zu den zahlreichen Anwendungen in der Geographie zählen beispielsweise die Thünenschen Ringe oder Walter Christallers System der Zentralen Orte. In der Arbeitspsychologie wird auch der Ausdruck Menschenbild anstelle von Modell benutzt.[12] Aufgrund des im Vergleich zu Frühkulturen reflektierten Umgangs mit Fragen der Ökonomie findet sich die Bezeichnung Homo oeconomicus in der Geschichtswissenschaft für den Wirtschaftsbürger der griechischen Antike.[13]

Weitere Modelle

Andere Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind beispielsweise der

Siehe auch

Literatur

  • Norbert Blüm: Gerechtigkeit. Eine Kritik des Homo oeconomicus. Herder, Freiburg/Basel/Wien 2003, ISBN 978-3-451-05789-2
  • Alexander Dietz: Der homo oeconomicus. Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein ökonomisches Modell. Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh 2005, ISBN 3-579-05310-8
  • Alfred Fey: Der homo oeconomicus in der klassischen Nationalökonomie und seine Kritik durch den Historismus. Limburger Vereinsdruckerei, Limburg 1936
  • Armin Falk: Homo Oeconomicus Versus Homo Reciprocans: Ansätze für ein Neues Wirtschaftspolitisches Leitbild? In: Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich (Hrsg.): Working Paper. No. 79, Juli 2001 (PDF; 220 KB)
  • Stephan Franz: Grundlagen des ökonomischen Ansatzes: Das Erklärungskonzept des Homo Oeconomicus. In: Universität Potsdam (Hrsg.): International economics working paper. 2004-02 (PDF; 69 KB)
  • Ulli Guckelsberger: Das Menschenbild in der Ökonomie – ein dogmengeschichtlicher Abriss. In: Jutta Rump, Thomas Sattelberger, Heinz Fischer (Hrsg.) : Employability Management. Grundlagen, Konzepte, Perspektiven. Gabler, Wiesbaden 2006, ISBN 3-8349-0118-0, S. 187 ff. (DOC)
  • Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mohr, Tübingen 1991, ISBN 3-16-145829-X; 3. ergänzte und erweiterte Aufl. ebd. 2008, ISBN 978-3-16-149834-3
  • Reiner Manstetten: Das Menschenbild in der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith. Alber, Freiburg/München 2000, ISBN 3-495-47980-5
  • Joseph Persky: Retrospectives: The ethology of Homo economicus. In: Journal of Economic Perspectives. 9 (2), 1995, S. 221-231.
  • Norbert Rost: Homo oeconomicus. Eine Fiktion der Standardökonomie. In: Humane Wirtschaft. 01/2009, S. 18–23 (PDF; 282 KB)
  • Ekkehart Schlicht: Der homo oeconomicus unter experimentellem Beschuß. In: Martin Held, Gisela Kubon-Gilke & Richard Sturn (Hrsg.): Experimente in der Ökonomik. Jahrbuch normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik 2. Metropolis-Verlag, Marburg 2003, ISBN 3-89518-414-4 (PDF; 278 KB)
  • Peter H. Werhahn: Menschenbild, Gesellschaftsbild und Wissenschaftsbegriff in der neueren Betriebswirtschaftslehre. Faktortheoretischer Ansatz, entscheidungsorientierter Ansatz und Systemansatz im Vergleich. Haupt Verlag, Bern/Stuttgart 1980, ISBN 3-258-02949-0; 2. Aufl. ebd. 1989, ISBN 3-258-04084-2
  • Helmut Woll: Menschenbilder in der Ökonomie. Oldenbourg, München/Wien 1994, ISBN 3-486-23056-5
  • Stefan Zabieglik: The Origins of the Term Homo Oeconomicus. In: Janina Kubka (Hrsgn.), Economics and Values. PG, Gdańsk 2002, ISBN 83-915729-2-7, S. 123-131

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Homo oeconomicus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Fußnoten

  1. Stephan Franz: Grundlagen des ökonomischen Ansatzes: Das Erklärungskonzept des Homo Oeconomicus. In: Universität Potsdam (Hrsg.): International economics working paper. 2004-02, S. 4 (PDF; 69 KB)
  2. a b Gabler Wirtschafts-Lexikon. 15. Auflage, S. 1457, ISBN 3-409-30388-X
  3. Eduard Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. 8. Auflage. Tübingen 1950, S. 148
  4. F. A. von Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Mohr (Siebeck), Tübingen 1971, S. 76
  5. http://www.ft.com/cms/s/2/76e593a6-28eb-11e0-aa18-00144feab49a.html
  6. a b Andreas Novy: Der homo oeconomicus. In: Internationale Politische Ökonomie. Mit Beispielen aus Lateinamerika]. 2005 (PDF; 688 KB)
  7. Stephan Franz: Grundlagen des ökonomischen Ansatzes: Das Erklärungskonzept des Homo Oeconomicus. In: Universität Potsdam (Hrsg.): International economics working paper. 2004-02, S. 3 (PDF; 69 KB)
  8. Herbert Giersch, Die Moral der offenen Märkte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 64, 16. März 1991, 13
  9. Karl Homann, Andreas Suchanek: Ökonomik. Eine Einführung, Mohr Siebeck, 2. Aufl. Tübingen 2005 , 412
  10. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität Bd. 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Suhrkamp, Frankfurt 2004, ISBN 3-518-58392-1, S. 112 ff, S. 367 ff, S. 371
  11. Ulli Guckelsberger: Das Menschenbild in der Ökonomie – ein dogmengeschichtlicher Abriss. In: Jutta Rump, Thomsa Sattelberger, Heinz Fischer (Hrsg.) : Employability Management. Grundlagen, Konzepte, Perspektiven. Gabler, Wiesbaden 2006, ISBN 3-8349-0118-0, S. 187 ff. (DOC)
  12. Vergleiche beispielsweise Eberhard Uhlig: Arbeitspsychologie. Poeschel, Stuttgart 1991, ISBN 3-7910-0574-X
  13. Claude Mossè: Homo Oeconomicus, in: Jean-Pierre Vernant (Hrsg.): Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt-New York-Paris 1993, 31-62

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