Kriminalbiologie

Kriminalbiologie

Als Kriminalbiologie bezeichnet man die Wissenschaft, die sich mit den körperlichen, insbesondere den genetischen Merkmalen eines Straftäters eines Verbrechens beschäftigt. Früher wurde verbreitet auch die Bezeichnung Kriminalanthropologie synonym verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Ursprünge

Die Kriminalbiologie spielte im Gefolge der Rezeption von Charles Darwin (1859) eine zunehmend wichtige Rolle im Wissenschaftsdiskurs über das Verbrechen. Der Verbrecher, einst als moralisch gestrauchelter Mensch angesehen, wurde nunmehr eher als biologisch defektes Wesen, als "verhinderter" mehr denn als "gefallener" Mensch, angesehen (Peter Becker). Mit Lombrosos Studien (1876) und den Diskussionen darum etablierte sich der biologische Ansatz als eine unter mehreren Strömungen, die in den 1880er und 1890er Jahren die Entstehung der Kriminologie als Wissenschaft beeinflussen sollten. In Bayern sammelte der Kriminalbiologische Dienst seit 1924 Angaben zu den physischen Merkmalen von Gefangenen. 1927 gründete Adolf Lenz (Graz) die Kriminalbiologische Gesellschaft.

NS-Zeit und die Folgen

Ihren Durchbruch erlebte die Kriminalbiologie in der Zeit des Nationalsozialismus. Der spätere städtische "Jugendpsychiater" Robert Ritter in Frankfurt am Main wendete sie zu jener Zeit umfangreich an, in der Absicht, die Grundlagen zur Ermordung zigtausender Roma und Sinti zu schaffen. Nach seiner und Heinrich Himmlers Auffassung hatten 9 von 10 "Zigeunern" kein Recht zu leben. Ab 1941 leitete Ritter ein "Kriminalbiologisches Institut" im Hauptamt Sicherheitspolizei, das seit September 1939 Teil des RSHA war. Notker Hammerstein rechtfertigte Ritters Taten noch 1999 in einer "Auftragsarbeit" (Ernst Klee) für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (und damit auch die seiner NS-Mitarbeiterinnen Eva Justin, ebenfalls Stadt Frankfurt, und Sophie Ehrhardt). Das Buch des Hammerstein wurde allerdings nach Klees Kritik von der DFG selbst indirekt in Frage gestellt.

Die Sarrazin-Debatte seit 2010

Der Spitzenpolitiker Thilo Sarrazin (SPD) äußerte 2010 vehement Auffassungen von erblicher Kriminalität bei Migranten in einem "Bestseller" des deutschen Buchmarktes. Im Anschluß an ein Interview mit der Welt am Sonntag, die zuerst über Sarrazins Biologismus mit konkreten Zitaten aus der Erstauflage des Buches berichtet hatte, wird Anfang 2011 ausgeführt:

Sarrazins Ausführungen zu Intelligenz und Genen sind hoch umstritten ... Mußten diese Ausflüge in den Biologismus wirklich sein? Warum ist bei vielen Einwanderern der Eindruck entstanden, Sarrazin halte sie von Natur aus für blöder[1] als die Deutschen? Wieso hat er das Faß überhaupt aufgemacht? (Nach Abschalten des Tondandes wird klar:) Das Fass mit den Genen und der Intelligenz wollte S. aufmachen und er wußte auch, was dabei herauskommt.[2]

Literatur

  • Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz, Dr. Kovac, Hamburg 2005
    • dsb.: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit, Lit, Münster 2006; ²2010
  • Walter Bagehot: Physics and Politics, or: Thoughts on the Application of the Principles of 'Natural Selection' and 'Inheritance' to Political Society. 1872
  • Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002
  • Nadine Hohlfeld: Moderne Kriminalbiologie. Die Entwicklung der Kriminalbiologie vom Determinismus des 19. zu den bio-sozialen Theorien des 20. Jahrhunderts. Eine kritische Darstellung moderner kriminalbiologischer Forschung und ihrer kriminalpolitischen Forderungen. Reihe Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft, 2. Peter Lang, Frankfurt 2002
  • Claudia Schoßleitner: Der Beitrag Österreichs zur Kriminalbiologie, Diss. Universität Linz 1991
  • Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920-1945. Waxmann, Münster 2001 ISBN 3830910630

Notizen

  1. Der Kontext der Erstauflage sagt vor allem auch: für krimineller. Die Redaktion hat hier geglättet.
  2. Welt am Sonntag, Nr. 1, 2. Jan. 2011, S. 10

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