Man’yōshū

Man’yōshū

Das Man’yōshū (jap. 萬葉集 bzw. 万葉集, dt. Sammlung der zehntausend Blätter) ist die erste große japanische Gedichtzusammenstellung. Es handelt sich um eine Sammlung von mehr als 4.500 Gedichten, die unter anderen den Kokashū und den Ruijū Karin (類聚歌林) enthält. Das Man’yōshū wurde um 759 hauptsächlich unter dem Dichter Ōtomo no Yakamochi (大伴 家持) (zwölf der insgesamt 20 Bände) zusammengestellt. Weitere Man’yōshū-Dichter waren unter anderem Ōtomo Tabito (665-731), Yamanoe Okura (660–733) und Kakinomoto no Hitomaro (柿本 人麻呂).

Die ältesten Gedichte lassen sich bis ins 4. Jahrhundert zurückdatieren, die meisten stammen jedoch aus dem Zeitraum zwischen 600 und 750.

Die Zusammenstellung ist in einer Man’yōgana (万葉仮名) genannten Silbenform geschrieben, in welcher chinesische Schriftzeichen nur zur Darstellung der Aussprache dienen. Die Aufzeichnung der Gedichte erfolgte ausschließlich in Kanji, den von den Japanern übernommenen chinesischen Schriftzeichen.

Man’yōshū Textausgabe, 12.Jhd.

Inhaltsverzeichnis

Umfang

Die drei Ideogramme im Wort man–yō–shū (man = Zehntausend, = Blätter, shū = Sammlung) tragen zu der wohl häufigsten Übersetzung des Begriffs „Sammlung der zehntausend Blätter“ bei. Man muss anmerken, dass das Ideogramm früher für das Wort kotoba, übersetzt Wort, stand, wodurch es abweichende Übersetzungen gibt. Die Herausgeber des Werkes sind unbekannt, jedoch dürfte der Dichter Ōtomo no Yakamochi maßgeblich zu der Entstehung der Sammlung beigetragen haben. Die ältesten Gedichte stammen bereits aus dem 4. Jahrhundert. Namentlich bekannt sind über 400 Poeten, jedoch gibt es sehr viele unbekannte Dichter, die zu der Vielfalt des Man’yōshū beigetragen haben. Die meisten Gedichte der Anthologie stammen jedoch aus dem Zeitraum zwischen 600 und 750. Den Großteil des Werkes machen etwa 4200 kurze Dichtungen, die sogenannten Tanka aus. Daneben gibt es Chōka, Langgedichte, und Sedōka, symmetrisch aufgebaute sechszeilige Gedichte.

Entstehung

Man kann weder mit Gewissheit sagen, wie das Man’yōshū zu der Form kam, die wir am heutigen Tage kennen, noch wer die Zusammensteller dieses umfassenden Werkes waren. Sicher kann nur gesagt werden, dass, wie bereits erwähnt, die Sammlung in der späten Nara-Zeit beendet wurde.

Der große Poet Yakamochi von dem Klan Ōtomo wird generell als einer der letzten Zusammensteller der Anthologie betrachtet. Er selbst, in diverse politische Angelegenheiten verwickelt, verstarb unter dubiosen Umständen 785. Der Klan Ōtomo verschwand daraufhin vollständig bis zum Ende des 9. Jahrhunderts. Mittlerweile gewann die chinesische Poesie immer mehr an Popularität, besonders in Kreisen des Hofes und beherrschte diese Schicht schließlich für fast mehr als 100 Jahre. Dies erklärt vermutlich das Fehlen des letzten Schliffes an der Sammlung. Die Hauptquellen des Man’yōshū, das Kojiki und das Nihonshoki (oder auch Nihongi genannt) sind selbst in der Anthologie erwähnt. Des Weiteren dienten als Quellen Werke einzelner Dichter, Memoiren, und Tagebücher aber auch mündlich überlieferte Dichtungen. In manchen Fällen ist die Originalquelle oder sogar die persönliche Meinung des Zusammenstellers zu dem Gedicht angegeben worden. Ein weiteres Charakteristikum des Man’yōshū ist die Wiederholung der Gedichte oder Publikation derer in leicht abgewandten Versionen.

Eines der wichtigsten Quellbücher des Man’yōshū war das Ruijū Karin (Wald eingeordneter Verse). Fertiggestellt wurde es von Yamanoe Okura, einem der ersten Man’yōshū-Poeten und begeistertem Verehrer der chinesischen Literatur. Es ist nicht viel über das Werk bekannt, aber man nimmt an, dass es als Vorlage für mindestens die ersten zwei Bände diente. Eine weitere Quelle stellte das Kokashū (Sammlung alter Gedichte) dar. Darüber hinaus werden im Man’yōshū die als Hitomaro, Kanamura, Mushimaro und Sakimaro bekannte Sammlungen erwähnt. Normalerweise geht einer Dichtung oder einer Gruppe von Dichtungen im Man’yōshū der Name des Autors, ein Vorwort und nicht selten ein Vermerk voraus. Im Vorwort und Vermerk ist zumeist der Anlass, Datum und Ort, aber auch die Quelle des Gedichtes gegeben. Geschrieben ist das alles in Chinesisch. Sogar chinesische Dichtungen, auch wenn ganz selten, kommen in den Büchern des Man’yōshū vor. Die Gedichte selbst sind in chinesischen Schriftzeichen, den Kanji geschrieben. Bemerkenswert ist, dass die Zeichen meistens strikt nur für ihren phonetischen Wert aus dem Chinesischen entliehen wurden, was als Manyōgana bezeichnet wird. Teilweise wurden die Zeichen auch semantisch verwendet, mit der entsprechenden japanischen Lesung. Zu der Zeit besaß Japan noch kein eigenes Schriftsystem. Erst aus der Manyōgana entwickelte sich die Kana, die Silbenschrift Japans. Mehrere Kanji konnten einen und denselben phonetischen Wert haben, es kam aber auch vor, dass ein spezielles Zeichen vom Dichter mit Absicht ausgewählt wurde. Das stellte eine große Herausforderung für die Übersetzung des Man’yōshū dar.

Inhalt

In seiner Qualität unterliegt das Man’yōshū keinesfalls einer der bekannten chinesischen Sammlungen und in Quantität kann es mit der griechischen Anthologie verglichen werden. Im Gegensatz zu einer anderen wichtigen Gedichtssammlung, dem Kokin Wakashū, sind im Man’yōshū sowohl Dichtungen des Hofes als auch die der Menschen auf dem Land enthalten. Die Spanne reicht sogar bis zu Sakamori, den „Dichtungen der Grenzsoldaten“ und den Dichtungen der östlichen Provinzen, Azuma Uta, in ihrem groben Dialekt. Neben der prachtvollen Wiedergabe des Stadtlebens koexistieren lebhafte Beschreibungen des ländlichen Lebens. Diese Anthologie reflektiert das japanische Leben zu der Zeit ihres Entstehens und verdeutlicht Berührungen mit dem Buddhismus, Shintoismus, Taoismus und Konfuzianismus.

Inhaltlich lassen sich die Gedichte des Man’yōshū in drei Gruppen unterscheiden:

  • Zōka (雑歌): Die sogenannten „vermischten Lieder“, wie zum Beispiel Glückwunschgedichte, Reiselieder und Balladen.
  • Sōmonka (相聞歌): Der Inhalt der „Lieder des gegenseitigen Befragens“, begrenzt sich überwiegend auf Liebeslieder, oder auch Lieder über Gefühle anderen Menschen gegenüber. Beispielhaft dafür ist ein Gedicht, das Nukada, die Nebenfrau des Kaisers Tenji an den jüngeren Bruder des Kaisers, Prinz Ōama, schrieb, als er während eines Jagdausflugs ihr zu verstehen gab, dass er um sie werbe.
  • Banka (挽歌): Elegien, zu denen Lieder über den Tod der Mitglieder der kaiserlichen Familie gehören.

Zu den frühen Werken werden vor allem die Schöpfungen der kaiserlichen Familie gezählt, die eine Vorliebe zu dem Volksliedhaften oder auch Zeremoniellen aufweisen. Ein gutes Beispiel dafür ist das dem Kaiser Yūryaku (456479) zugeschriebene Gedicht Yamato no kuni (Das Land Yamato), welches das Man’yōshū eröffnet.

Gedichtaufbau

Versbau

Der Versbau des Man’yōshū besteht aus einigen oder mehreren Zeilen, die in der Regel fünf und sieben Silben beinhalten.

Tanka

Die wohl am häufigsten vorkommende und bis Heute erhaltene Form in der Anthologie ist Tanka. Diese Form besteht aus 31 Silben: 5/7/5/7/7.

Chōka

Als Gegensatz dazu existiert im Man’yōshū, zwar in geringer Zahl, Chōka, das lange Gedicht. Dieses besteht auch aus 5 oder 7 Silben pro Zeile und wird mit einer 7- silbigen Zeile abgeschlossen: 5/7/5/7/5…7/7.

Das längste Chōka in der Anthologie überschreitet jedoch nicht 150 Zeilen. Insgesamt befinden sich etwa 260 der Langgedichte im Man’yōshū, davon einige geschrieben von Kakinomoto Hitomaro, einem der bedeutendsten Poeten. Genaugenommen bestand ein Chōka aus 2 oder gar mehreren kurzen Gedichten, den Hanka. Übersetzt wird Hanka mit „ein Vers, der sich wiederholt“ und ist aus der chinesischen Poesie entliehen, wo es eine ähnliche Funktion hatte. Chōka selbst verlor im 8. Jahrhundert an Bedeutung, während die Wichtigkeit des Tanka zunahm.

Sedōka

Neben den beiden Formen hat eine weitere Platz, das "Kehrverslied" (Sedōka). Es kommt in der Sammlung der Zehntausend Blätter nur etwa 60 Mal vor und war, als Kombination zweier Kata-uta (片歌), charakterisiert durch die zweimalige Wiederholung des Tripletts 5/7/7, also: 5/7/7/5/7/7.

Sedōka wurde jedoch mit der Zeit immer ungebräuchlicher und geriet schließlich in Vergessenheit.

Bussokusekika

Zuletzt ist noch eine Form mit nur einem Exemplar im Man’yōshū existent – die so genannte Bussokusekika (engl. Buddha's Foot Stone Poem). Diese gedenkt eines Steinmonuments mit dem Fußabdruck Buddhas, welches 752 in dem Yakushi-Tempel nahe Nara entstand. Charakteristisch für diese Form sind sechs Zeilen mit 38 Silben: 5/7/5/7/7/7.

Rhetorische Mittel

Weder Betonungen, Tonhöhen, Silbenlängen noch Reim werden für die Wirkung des Gedichts eingesetzt. Dies wird auf die Eigenheit der japanischen Sprache zurückgeführt, in der jede Silbe mit einem Vokal endet und keine eindeutigen Akzente gesetzt werden.

Als rhetorische Mittel werden zum einen Alliterationen, welche sowohl bewusst, als auch unbewusst gebraucht wird und zum anderen Parallelismus, der in Chōka eingesetzt wurde verwendet.

Auch werden die so genannten kake kotoba, Wortspiele mit Homonymen, makura kotoba, „Kopfkissenwörter“ und joshi, Einführungswörter, als rhetorische Mittel eingesetzt. Von den benannten drei Mitteln ist das kake kotoba, eine Form des Wortspiels, wohl das einfachste, jedoch in der japanischen Dichtkunst sehr bedeutend.

Bei makura kotoba, Epitheta ornantia, handelt es sich um einzelne Worte oder Sätze, im allgemeinen mit 5 Silben, die in Gedichten mit gewissen anderen festgeschriebenen Wörtern oder Phrasen verbunden sind. Verbunden mit Bedeutungen, Assoziationen und Klängen konnte der Autor mithilfe derer dem Gedicht Höhen oder Tiefen verleihen. Beispielhaft dafür ist taku tsunu, welches als makura kotoba dem Wort shiragi dient. Taku tsunu bedeutet „aus Fasern gedrehtes weißes Seil“. Das japanische Wort für weiß ist shiro oder shira und shiragi teilweise klangähnlich. Makura kotoba kamen bereits im Kojiki und Nihonshoki vor, wurden jedoch erst durch Kakinomoto Hitomaro im Man’yōshū etabliert.

Joshi, der Einführungsvers, ist dem Kopfkissenwort ähnlich aufgebaut, ist jedoch länger als 5 Silben.

Zu den einzelnen Büchern

Wie bereits erwähnt, besteht das Man’yōshū aus 20 Bänden. Man nimmt an, dass die ersten beiden Bücher der Sammlung auf den Befehl des Kaisers zusammengestellt wurden. Buch I beinhaltet Werke der Zeitspanne zwischen der Regentschaft des Kaisers Yūryaku (456–479) und dem Anfang der Nara-Zeit. Buch II dagegen deckt eine längere Periode ab: Es enthält Lieder, die dem Kaiser Nintoku (313399) zugeschrieben werden und diejenigen, die auf 715 datiert wurden. Beide Bücher sind im Vergleich zu den anderen Bänden eher weniger umfangreich, die Gedichte erscheinen in chronologischer Reihenfolge und sind im so genannten „Frühen Palaststil“ geschrieben. Buch III beschreibt die Periode zwischen der Regierungszeit der Kaiserin Suiko (592628) und dem Jahr 744. Konträr zu den Vorgängern beinhaltet das Buch eher die Dichtungen der Ländereien. Man kann allgemein sagen, dass in den ersten drei Büchern des Man’yōshū die Poeten des Ōtomo-Klans außerordentlich präsent sind. Im Buch IV befinden sich zum ausschließlich Sōmonka aus der Nara-Zeit. Der Schlüsselbegriff des Buches IV ist koi. Die wohl beste Übersetzung des Begriffs ist „Verlangen“, solches, das nie erwidert wird. Als Resultat entsteht Frustration, die stark zur Geltung kommt.

Buch V deckt die Jahre zwischen 728 und 733 ab und enthält einige wichtige Chōka. Im Anbetracht der umfassten Zeitspanne und der Dichter ist das Buch VI den Büchern IV und VIII sehr ähnlich. Es beinhaltet 27 Chōka und einige Reise- und Bankettdichtungen. Das Buch VII wie auch die Bücher X, XI und XII, mit anonymen Dichtungen bestückt, deckt die Periode zwischen der Regierungszeit der Kaiserin Jitō (686696) und der Kaiserin Genshō (715724) ab. Es enthält mehrere Lieder der Hitomaro-Sammlung und bezieht einen weiteren wichtigen Teil, 23 Sedōka, ein. Die Bücher XI und XII können der Fujiwara- und der frühen Nara-Zeit zugeordnet werden. Die Dichtungen dieser Bücher tragen eher den volksdichterischen Charakter. Buch IX offenbart uns Dichtungen aus Zeit zwischen der Regierungsperiode des Kaisers Jomei (629641) und, abgesehen von einem Tanka des Kaisers Yūryaku, 744. Bezogen wurden die Lieder zum großen Teil aus den Hitomaro und Mushimaro Sammlungen. Buch XIII weist ein einzigartiges Repertoire von 67 Chōka auf, wovon die Mehrheit auf die Zeit des Kojiki und Nihonshoki datiert wird. Einige Exemplare stammen jedoch unmissverständlich aus den späteren Perioden. Die Sammlung der Dichtungen der östlichen Provinzen findet man im Buch XIV. Weder die Autoren, noch das Datum der Zusammenstellung ist bekannt, doch zeigt sich ein eindeutiger Unterschied zu den Provinzgedichten, in Stil und Sprache. Buch XV beinhaltet unter anderem eine Reihe von Meeresdichtungen, geschrieben von den Mitgliedern der Gesandtschaft nach Korea um 736 und einige Liebesgedichte, datiert 740, die von Nakatomi Yakamori und seiner Geliebten Sanu Chigami ausgetauscht wurden. Die im Buch XVI abgehandelten Dichtungen beschreiben den Zeitraum zwischen den Regierungszeit des Kaisers Mommu (697706) und der Tempyō-Ära (729–749).

Generell wird der Dichter Ōtomo no Yakamochi als der Zusammensteller der ersten 16 Bücher des Man’yōshū betrachtet. Auch ist es bewiesen, dass zwischen den Bücher I bis XVI und den nachfolgenden vier eine Zeitlücke besteht.

Bücher XVII bis XX werden als persönlich gesammelte Werke von Ōtomo no Yakamochi angesehen. Jedes der vier Bücher gehört der Nara-Zeit an, Buch XVII deckt die Jahre 730 bis 740, Buch XVIII 748 bis 750 und Buch XIX 750 bis 753 ab. Insgesamt beinhalten diese drei Bände 47 Chōka, der Inhalt des Buches XIX wird zu zwei Drittel durch Yakamochis Werke bestimmt, hier befindet sich der Großteil seiner Meisterwerke. Buch XX umfasst die Jahre 753 bis 759. Hier sind die Sakamori niedergeschrieben, die Lieder der Grenzsoldaten, welche die Küste von Kyūshū bewachten. Name, Rank, Provinz und Status jedes einzelnen Soldaten sind zusammen mit der dazugehörigen Dichtung aufgezeichnet. Das Jahr 759, das letzte vorkommende Datum im Man’yōshū an das die Anthologie abschließende Gedicht, verfasst durch Yakamochi, angehängt.

Herausragende Poeten

Kakinomoto Hitomaro

Ab der Hälfte des 7. Jahrhunderts bildete sich ein professioneller Stand der Poeten am Hofe heraus, wo Kakinomoto Hitomaro (um 662 – um 710) eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Von seinem Leben ist nichts bekannt, doch hatte er einen wesentlichen Anteil von 450 Gedichten, davon 20 Chōka, im Man’yōshū. Die von ihm geschaffene Gedichte lassen sich in zwei Kategorien teilen: Jene, die er in seiner Funktion als Hofpoet sozusagen auf Bestellung gemacht hat und die, die er aus seinen persönlichen Empfindungen heraus kreierte. Zu ersteren gehören Elegien auf den Tod von Mitgliedern des Kaiserhauses. Besonders in den Chōka zeigte er seine ganze künstlerische Geschicklichkeit. Durch Verwendung von joshi und makura kotoba, begleitet von refrainartigen Wiederholungen wusste er den Klang des Gedichtes zu gestalten. Das Langgedicht fand mit Hitomaro neben seinen Höhepunkt auch sein Ende. Der Hofdichter Yamabe Akahito versuchte zwar, die Tradition des Chōka fortzuführen, jedoch gelang es ihm nicht, an die Meisterleistung von Hitomaro heranzureichen. Für den Untergang der Chōka gab es mehrere Gründe. Das Chōka kannte nur wenige stilistische Mittel, wie zum Beispiel die Gestaltung mit 5 und 7 Silben. Wie bereits erwähnt, spielten Reime oder Akzente keine Rolle, konträr zu dem europäischen Gedicht. Des Weiteren handelte es sich bei den Langgedichte um Lobpreisungen an den Kaiser, mit nur wenigen Ausnahmen. So wurden die Dichtungen keinesfalls vielfältig gestaltet. Zuletzt verkörperten die Dichtungen Hitomaros kein Ideal, sondern drückten lediglich die absolut loyale Haltung gegenüber dem „Großen Herrscher“ aus.

Die zweite Gruppe seiner Gedichte, die persönlichen Empfindungen, präsentiert ihn als einen ausgezeichneten Dichter, besonders im Bezug auf die Elegien, die er auf den Tod seiner Frau schrieb.

Yamabe Akahito

Zu den zentralen Themen des Man’yōshū zählten Liebe sowie Schmerz über den Tod. Die sich damit befassenden Gedichte bezogen ihre Metaphern aus der unmittelbar nahen natürlichen Umgebung, wodurch das Liebesempfinden durch Blüten, Vögel, Mond und Wind ausgedrückt wurde, der Schmerz dagegen bediente sich der Metaphern wie Berge, Flüsse, Gras und Bäume. Zweifellos bestand dem Wechsel der Jahreszeiten eine besondere Affinität. Jedoch wurde der Naturbegriff nicht in seiner gesamten Bandbreite behandelt. So geschah es, dass zum Beispiel der Mond als das Motiv vielen Gedichten diente, die Sonne und die Sterne dagegen kamen eher selten in den Dichtungen vor. Des Weiteren wurde das küstennahe Meer den Weiten der See vorgezogen. Der Dichter Yamabe Akahito, bekannt durch seine Landschaftsdichtungen, schrieb seine Gedichte, im Gegensatz zu Hitomaro, auch dann, wenn kein besonderer Anlass dazu bestand. Themen seiner Gedichte waren keine riesigen Berge, sondern der Kaguyama, ein Hügel von 148 Metern Höhe, nicht das Meer sondern die kleinen Buchten mit ihren Fischerbooten.

Weil Akahito nur Naturgedichte erschuf und sich keineswegs in dieser Richtung weiterentwickelte, wurde er zwangsläufig zum Spezialisten der Naturdichtung. Er entdeckte, dass Lyrik auch ohne Intuition und Originalität möglich war. So wurde er zum ersten professionellen Poeten der japanischen Dichtkunst, was seine historische Bedeutung beschreibt.

Yamanoe Okura

Ein weiterer Dichter spielte im Man’yōshū eine wichtige Rolle: Yamanoe Okura. Man weiß nichts über seine Herkunft, doch berichtet das Nihonshoki dass ein „Yamanoe Okura, ohne Hofrang“ ein Mitglied der Gesandtschaft nach China im Jahre 701 war. Nach drei Jahren Aufenthalt kehrte er nach Japan zurück und wurde 714 in den Adelstand erhoben. 721 wurde er Lehrer des Kronprinzen. 726 wurde er als Gouverneur von Chikuzen nach Kyūshū entsandt. Mehrere Jahre später erkrankte er und schrieb 733 einen „Text, sich selbst zum Trost angesichts des langen Leidens“, in dem er die Symptome seiner Krankheit beschrieb.

Während des China-Aufenthaltes perfektionierte Okura seine Fähigkeit, chinesische Texte zu verfassen, die einen starken taoistischen und buddhistischen Einfluss erkennen lassen. So zitiert er in dem Vorwort zu einem seiner Gedichte „Zurechtweisung eines verirrten Geistes“ (V/800) die Sankō und die Gokyō, essentielle konfuzianische Begriffe. Ein weiteres Gedicht, dass er niederschrieb, eine Elegie auf den Tod seiner Frau (V/794) zeigt massive buddhistische Einflüsse.

Okuras Liebe zu Familie und Kindern war ein großes Thema seiner Gedichte. Sein bereits oben erwähntes Gedicht „Lied beim Verlassen eines Banketts“ war maßgebend, denn niemand außer ihm hat je wieder solche Verse geschrieben. Seit der Edo-Zeit galt es sogar für einen Mann als beschämend, sich von einem Bankett aus familiären Gründen zu entfernen. Eine zweite Thematik seiner Gedichte stellte die Last des Alters dar. Begleitend dazu sein „Gedicht über die Schwierigkeit, in dieser Welt zu Leben“, in dem er über das unmittelbar kommende Alter klagt.

Zum dritten großen Themenbereich Okuras gehören Dichtungen über Elend, Armut und Herzlosigkeit des Steuereintreibers. Das folgende Gedicht, ein Gegenvers zum Chōka Dialog über die Armut (V/892), macht seine Gedanken deutlich:

Bitter und elend
ist mir das Leben.
Kann fort nicht fliegen,
bin ja kein Vogel.
(V/853)

Diese Thematik wurde von keinem seiner Zeitgenossen oder Nachfolger je wieder angerührt.

Ōtomo Yakamochi

Der Sohn des Ōtomo Tabito, Ōtomo Yakamochi (718?–785) verbrachte seine Jugendjahre in Kyūshū. Nachdem sein Vater verstarb, wurde er zum Oberhaupt des Hauses Ōtomo. Seine politische Laufbahn war nicht erfolglos: Er diente als Gouverneur verschiedener Provinzen, hielt sich aber auch des Öfteren am Hof in Nara auf. 756 war er in ein erfolgloses Komplott gegen die am Hofe einflussreichen Fujiwara verwickelt, was den Stern seiner politischen Karriere sinken ließ.

Ōtomo Yakamochi zählt zu den Hauptzusammenstellern des Man’yōshū, welches rund 500 Gedichte von ihm enthält, das letzte aus dem Jahre 759. Sein Verdienst liegt weder in der Originalität noch in der Sprache oder Empfindungskraft seiner Dichtungen, er liegt eher darin, dass Yakamochi es schaffte den Ausdruck des Naturempfindens zu verfeinern und somit zu der Welt des Kokinshū (um 905) wenn nicht gar zu der des Shin-kokinshū (um 1205) überzuleiten.

Die Hof- und Volksdichtung

Die Poesie der Aristokratie des 7. Jahrhunderts betrachtete auf der einen Seite das Langgedicht als eine repräsentative Form der Dichtung und verwendete diese vor allem zu besonderen und kollektiven Anlässen. Auf der anderen Seite entwickelte sich das lyrische Gedicht in dem Tanka, dem Kurzgedicht, welches zu dem Ventil des persönlichen Empfindens wurde. Das wiederkehrende Motiv des Tanka bildete die Liebe zwischen Mann und Frau, belegt mit Metaphern aus der natürlichen Umgebung. Trotzdem die Übernahme der festländischen Kultur bereits begonnen hatte, konnte das chinesische Gedankengut noch nicht in die tiefliegende Gedankenschichten vordringen. Selbst zur Blütezeit der buddhistischen Kunst in der Tempyō-Ära (729–749) manifestierten sich die buddhistischen Gedanken nicht in der Lyrik des Adels. „Die Dichter des 8. Jahrhunderts schilderten eine von menschlichen Belangen losgelöst betrachtete Natur (Yamabe Akahito), spürten den psychischen Verwerfungen der Liebe nach (Ōtomo Sakanoe), oder besangen die Nuancen einer höchst verfeinerten Empfindungswelt (Ōtomo Yakamochi)“. Als zentrales Thema der Dichtung blieb die Liebe und die Dichter des Hofes setzten sich das intensive Erleben des Augenblicks als höchstes Gebot.

Sakimori Uta

Repräsentativ für die Volksdichtung waren zum einen Sakimori Uta (防人歌), Lieder der Grenzsoldaten und zum anderen Azuma Uta (東歌), Lieder der östlichen Provinzen. Der Inhalt der Sakimori Uta, mit 80 Liedern im Man’yōshū präsent, schloss sich zusammen aus drei Hauptthemen. Etwa ein Drittel der Lieder beklagt sich über die Trennung von der Frau oder Geliebten, ein weiteres Drittel gilt den Eltern oder der Mutter (nur in einem Fall dem Vater) zuhause und lediglich der Rest beschäftigt sich mit dem eigentlichen Dienst der Soldaten. Die letzteren sind aber keineswegs Lobpreisungen an den Militärdienst, häufig beklagen sich die Soldaten hasserfüllt über ihre Tätigkeit:

Was für ein gemeiner Kerl!
Mich zum Grenzer zu machen,
da ich krank darnierderlag.
(XX/4382)

Unter den Grenzsoldaten herrschte eine Hierarchie: Auf je 10 Soldaten kam ein Untergruppenführer. Im Gegensatz zu dem einfachen Soldaten wurden von den Untergruppenführern teilweise ganz andere Art von Liedern überliefert:

Von Stund an
will ich nicht rückwärts schauen,
will hinausziehn,
meinem Herren zu dienen
als dessen untertänigster Schild.
(XX/4373)

Azuma Uta

Die emotionalen Empfindungen der des Menschen auf dem Land waren von den des Hofes nicht grundliegend unterschiedlich. Eine Gemeinsamkeit war zum Beispiel die gemeinsame japanische Weltsicht. Belegt wird das durch die Azuma Uta, über 230 Kurzgedichte anonymer Dichter der Provinzen. Man nimmt an, das diese im 8. Jahrhundert entstanden sind. So gut wie keine Merkmale des Buddhismus sind in den Azuma Uta enthalten, wodurch man annehmen kann, dass sich hier die urjapanische Kultur, wie sie noch zu der Zeit erhalten war, widerspiegelt.

Wie schon in der Dichtung des Hofes bildet die Liebe zwischen Mann und Frau auch hier das zentrale Motiv. 196 der über 230 Gedichte werden von den Kompilatoren der Gruppe der Sōmonka zugeordnet, doch befinden sich unter den restlichen einige, die mehr oder minder direkt das Thema Liebe ansprechen. Konträr zu den Poeten des Hofes gibt es kaum Naturdichtung, losgelöst von Liebesempfinden. Nur 2 Gedichte erwähnen den Tod. Die Beschreibung der Liebe zwischen Mann und Frau weist nur einige wenige Verben vor, die entsprechend häufig vorkommen. Diese lassen sich in zwei Gruppen teilen: Jene, die sich auf den direkten körperlichen Kontakt beziehen, und solche, die die psychische Seite der Liebe behandeln. Zu den ersten gehört zum Beispiel nu, schlafen im Sinne von Beischlaf. Die andere Gruppe beinhaltet Verben wie kofu, lieben, oder mofu, sich sehnen. Azuma Uta spiegelt den Volksglauben wider, welcher versucht, mittels Orakel, dem Deuten von Worten Vorbeigehender und dem Verbrennen der Schulterblattknochen einer Hirsches die unmittelbar nahe Zukunft zu bestimmen, gar auf sie Einfluss zu nehmen.

Quellen

  • Graeme Wilson (Übers.): From The Morning Of The World. Harvill Verlag, London 1991
  • Ian Hideo Levy: The Ten Thousand Leaves. Princeton University Press, New Jersey 1987
  • Donald Keene: Seeds In The Heart. Columbia University Press, New York 1999
  • Theodore De Bary: Manyōshū. Columbia University Press, New York 1969
  • Shūichi Katō: Die japanische Literaturgeschichte. Scherz Verlag, Bern [u.A.] 1990
  • Horst Hammitzsch (Hrsg.): Japan Handbuch. Steiner Verlag, Stuttgart 1990

Literatur

  • Frederick Victor Dickins: Primitive & Mediaeval Japanese Texts. Translated into English with Introductions Notes and Glossaries. Clarendon Press, Oxford 1906 (Kommentierte, englische Übersetzung des Man’yōshū und des Taketori Monogatari, Digitalisat im Internet Archive).
  • Frederick Victor Dickins: Primitive & Mediaeval Japanese Texts. Transliterated into Roman with Introductions Notes and Glossaries. Clarendon Press, Oxford 1906 (Transliteration des Man’yōshū und anderer Werke inkl. detaillierter Beschreibung der verwendeten Makura-Kotoba, Digitalisat im Internet Archive).

Weblinks


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