Posttraumatische Verbitterungsstörung

Posttraumatische Verbitterungsstörung
Klassifikation nach ICD-10
F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
F43.2 Anpassungsstörungen
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Die Posttraumatische Verbitterungsstörung (Posttraumatic Embitterment Disorder, PTED) ist eine von Michael Linden 2003 vorgeschlagene neue Krankheitsentität aus dem Gebiet der Anpassungsstörungen.[1] Sie kann nach außergewöhnlichen, jedoch lebensüblichen Belastungen (Kündigung, Partnerschaftsprobleme, zwischenmenschliche Konflikte, Verlusterlebnisse) entstehen, wenn diese als ungerecht, kränkend oder herabwürdigend erlebt werden. Es treten chronische Verbitterung in Verbindung mit Selbst- oder Fremdaggression auf.[2]

Es gibt Überlegungen, die Posttraumatische Verbitterungsstörung als neue Diagnose in die nächsten Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders aufzunehmen.[3]

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Besonders häufig kommt die Posttraumatische Verbitterungsstörung nach größeren sozialen Umbrüchen vor. Linden entdeckte dieses Krankheitsbild so auch nach der Wiedervereinigung an seinen Patienten.[1] Aber auch ohne diese Umbrüche soll diese Erkrankung häufig sein. Es wird angenommen, dass 2–3% der gesamten Bevölkerung an PTED leiden.[4]

Symptomatik

Im Vordergrund des Beschwerdebildes stehe ein andauernder Verbitterungsaffekt, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Vorwürflichkeit gegen sich und andere, aggressiven Phantasien gegen sich selbst und andere bis hin zu Gedanken an Suizid und auch erweiterten Suizid. Hinzu kommen typischerweise Antriebsblockade und innere Unruhe, somatoforme Störungen, Schlafstörungen, sozialer Rückzug. Plätze und Personen, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind, werden vermieden, was vordergründig wie eine Phobie erscheinen kann. Die Grundstimmung ist dysphorisch gedrückt.

Diagnose

Folgende Kriterien sollten für eine Diagnose von Posttraumatischer Verbitterungsstörung erfüllt sein:[4]

  • klinisch signifikante emotionale Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten, die nach einer außergewöhnlichen, jedoch lebensüblicher Belastung auftraten
  • die traumatische Belastung wird in folgender Art und Weise erlebt:
    • der Patient kennt die Belastung und sieht sie als Ursache seiner Erkrankung
    • das Ereignis wird als ungerecht, beleidigend und als Demütigung erlebt
    • die Reaktion des Patienten auf das Ereignis beinhaltet Gefühle der Verbitterung, Wut und Hilflosigkeit
    • der Patient reagiert mit emotionaler Erregung, wenn er an das Ereignis erinnert wird
  • zu den Symptomen gehören wiederholte, sich aufdrängende Erinnerungen und eine bleibende negative Veränderung der mentalen Gesundheit
  • vor dem Ereignis gab es keine mentale Erkrankung, die die abnormale Reaktion erklären könnte
  • das Ausüben täglicher Aktivitäten und Aufgaben ist eingeschränkt
  • die Symptome bestehen seit mehr als 6 Monaten

Kriterienkataloge mit leichten Unterschieden wurden ebenfalls veröffentlicht.[5] Eine wichtige Differentialdiagnose ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD), bei der allerdings Angst und nicht Verbitterung die vorherrschende Emotion ist. Das auslösende Ereignis ist bei der PTSD außerdem meist lebensbedrohlich und ist nicht lebensüblich. Bei einer Depression können ähnliche Symptome auftreten, es fehlt aber das spezifische auslösende Ereignis. Bei der Depression ist außerdem die affektive Schwingungsfähigkeit beeinträchtigt. Andere Anpassungsstörungen gehen meist vorüber und sind nicht chronisch.[4][6]

Ursache und Auslöser

Zu schweren Verbitterungsreaktionen kommt es, wenn durch ein Ereignis oder andere Personen wichtige „Grundannahmen“ grob verletzt werden. Grundannahmen (im Englischen: basic beliefs) sind psychologische Einstellungen und Wertorientierungen, die dazu dienen, sich über die Lebensspanne hin kohärent verhalten zu können (z.B. „Die Familie ist das Wichtigste im Leben!“ „Der Beruf ist das wichtigste im Leben!“ „Materielle Sicherheit oder Reichtum ist das Wichtigste im Leben!“ „Verlässlichkeit und Ehrlichkeit ist das Wichtigste im Leben!“ usw.).

In den Bereichen, in denen Menschen besonders leistungsstark sind, sind sie verletzlich. Kränkungen und Ungerechtigkeit sind psychologisch als Aggression zu verstehen. Wenn darauf nicht mit wirksamer Verteidigung reagiert werden kann, können Hilflosigkeit, Resignation und Verbitterung einsetzen. Verbitterung hat dabei auch den Charakter einer Bestrafung des Aggressors durch Selbstzerstörung, was die z. T. ausgeprägten aggressiven Phantasien und Handlungen sowie erweiterte Suizide erklärt.

Zwei Faktoren können Verbitterungsreaktionen vorbeugen und auch therapeutisch genutzt werden:

  • Weisheit im Sinn der modernen Weisheitspsychologie (Expertise im Umgang mit schwierigen und unauflösbaren Lebensfragen),
  • eine allgemeine Stärkung der individuellen Resilienz.

Psychotherapie

Die Behandlung der Posttraumatischen Verbitterungsstörung ist erschwert durch die regelhaft anzutreffende resignativ-aggressiv-abwehrende Grundhaltung der Patienten, die sich auch gegen therapeutische Hilfsangebote richtet.

Einen Behandlungsansatz soll die von Linden entwickelte „Weisheitstherapie“ bieten, eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie, die den Patienten in die Lage versetzen soll, das kritische Lebensereignis und insbesondere damit verbundene Kränkungen und Herabwürdigungen durchzuarbeiten, sich davon zu distanzieren und neue Lebensperspektiven aufzubauen.[7][8]

Hier setzt man zum einen übliche kognitive Strategien der Einstellungsänderung und Problemlösung ein wie

  • verhaltenstherapeutische Verfahren der Verhaltensanalyse und des kognitiven Rehearsals,
  • Analyse automatischer Gedanken und Schemata,
  • Reframing oder kognitives Neubenennen,
  • Expositionsverfahren,
  • Aktivitätsaufbau,
  • Wiederaufbau von Sozialkontakten und
  • Förderung von Selbstwirksamkeitserfahrungen.

Zum anderen setzt man als spezielles Therapiemodul ein gezieltes Training von Weisheitskompetenzen ein; dazu gehört die Förderung folgender Fähigkeiten:

Methodisch wird das Verfahren der „unlösbaren Probleme“ eingesetzt. Bei diesem Verfahren gibt man fiktive schwerwiegende und unlösbare Konfliktsituationen vor, anhand derer die Patienten die vorgenannten Fähigkeiten einüben können/sollen, um sie anschließend auf ihre eigene Situation zu übertragen (sog. "Lerntransfer").[9][10]

Kritik

Yael Dvir, psychiatrischer Ausbildungsassistent an der University of Massachusetts, Worcester, bemängelte in einer Buchbesprechung, dass Studien zur Posttraumatischen Verbitterungsstörung vor allem an Patienten mit weiteren psychischen Erkrankungen vorgenommen wurden. Eine Verbitterung lasse sich von den vielen weiteren Erkrankungen nicht als eigenständige Erkrankung abgrenzen.[11]

Literatur

  • Andreas Maercker und Rita Rosner (Hrsg.): Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörungen: Krankheitsmodelle und Therapiepraxis - störungsspezifisch und schulenübergreifend. Thieme-Verlag 2006. 978-3131411112
  • Kai Baumann und Michael Linden: Weisheitskompetenzen und Weisheitstherapie. Dustri, 2008, 978-3899674903
  • Michael Linden, Barbara Schippan, Kai Baumann und Rüdiger Spielberg: Die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED). Abgrenzung einer spezifischen Form der Anpassungsstörungen. In: Der Nervenarzt. Band 75, 2004, S. 51–57.
  • Barbara Schippan, Kai Baumann und Michael Linden: Weisheitstherapie. Kognitive Therapie der Posttraumatischen Verbitterungsstörung. In: Verhaltenstherapie. Band 14, 2004, S. 284–293. (auch veröffentlicht in: Maercker / Roesner (2006), siehe oben, Seite 208 - 227)

englisch

  • Michael Linden: Posttraumatic Embitterment Disorder. In: Psychotherapy and Psychosomatics. Band 72, 2003, S. 195–202.
  • Michael Linden, Kai Baumann, Max Rotter und Barbara Schippan: The Psychopathology of Posttraumatic Embitterment Disorders (PTED). In: Psychopathology. Band 40, 2007, S. 159–165.
  • Michael Linden, Kai Baumann, Max Rotter und Barbara Lieberei: The Post-Traumatic Embitterment (PTED). Hogrefe & Huber, Bern 2007.
  • Michael Linden, Kai Baumann, Max Rotter und Barbara Lieberei: Posttraumatic Embitterment Disorder in comparison to other mental disorders. In: Psychotherapy and Psychosomatics. Band 77, 2008, S. 50–56.

Weblinks

Belege

  1. a b Posttraumatic embitterment disorder.. In: Psychother Psychosom. 72, Nr. 4, S. 195-202. doi:10.1159/000070783. PMID 12792124.
  2. Verbitterungsstörung: Wissenschaftliche Neuentwicklung. In: Deutsches Ärzteblatt. Nr. Ausgabe Juni 2005, 2005-06, S. 258. Abgerufen am 23. August 2010.
  3. : (Post-traumatic) embitterment disorder: critical evaluation of its stressor criterion and a proposed revised classification.. In: Nord J Psychiatry. 64, Nr. 3, Mai 2010, S. 147-52. doi:10.3109/08039480903398185. PMID 20148750.
  4. a b c : Diagnostic criteria and the standardized diagnostic interview for posttraumatic embitterment disorder (PTED). In: International Journal of Psychiatry in Clinical Practice. 12, Nr. 2, 2008, S. 93–96. doi:10.1080/13651500701580478.
  5. : The psychopathology of posttraumatic embitterment disorders.. In: Psychopathology. 40, Nr. 3, 2007, S. 159-65. doi:10.1159/000100005. PMID 17318008.
  6. Diagnostische Kriterien und Entwicklung eines diagnostischen Interviews für die Posttraumatische Verbitterungsstörung 2008 (Zugriff am 25. August 2010)
  7. Baumann/Linden: Weisheitstherapie, Springer Verlag
  8. Michael Linden: Weisheitstherapie
  9. Baumann/Linden: Weisheitstherapie, Springer Verlag
  10. Michael Linden: Weisheitstherapie
  11. : Posttraumatic Embitterment Disorder: Definition, Evidence, Diagnosis, Treatment. In: Psychiatric Services. 58, Nr. 11, 2007, S. 1507–1508. doi:10.1176/appi.ps.58.11.1507-a.
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