Otto Michel

Otto Michel

Otto Michel (* 28. August 1903 in Elberfeld, heute zu Wuppertal; † 28. Dezember 1993 in Tübingen) war ein deutscher evangelischer Theologe. Er war Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Michel wurde in Elberfeld als Sohn eines Kaufmanns im Textilgewerbe geboren, der selbst dem erweckten bergischen Christentum zuzurechnen war. Ein bestimmendes Erlebnis war seine Konfirmation im Jahre 1918, die ihn zu dem Entschluss brachte, Theologie zu studieren. Nach dem Abitur 1922 studierte Michel in Tübingen und Halle/Saale Theologie. In Halle wurde er durch Ernst von Dobschütz angeregt, die wissenschaftliche Laufbahn anzustreben. Michel promovierte 1929 und wurde noch im selben Jahr auf Grund der Promotion und einer Probevorlesung von der Theologischen Fakultät in Halle habilitiert. Anschließend war er Inspektor des Tholuck-Konviktes und Studentenpfarrer in Halle, 1934/35 Pfarrer in Lüdenscheid, danach Assistent und Lehrstuhlvertreter in Halle, ab 1940 in Tübingen. 1946 wurde er ordentlicher Professor für Neues Testament in Tübingen, 1957 erfolgte die Gründung des dortigen Institutum Judaicum, 1971 wurde Michel emeritiert. Neben der Lehrtätigkeit steht Michels evangelistische Tätigkeit, seine Mitarbeit in der Studentenmission in Deutschland (SMD) sowie an der Durchführung von Ferienseminaren für Theologiestudierende, in denen wissenschaftliche Theologie auf der Grundlage eines erwecklichen Christentums vermittelt wurde.

Die schwierigen Erfahrungen während der Zeit des Dritten Reiches, in der Michel der Bekennenden Kirche angehörte, obwohl er sich 1933 auch der NSDAP angeschlossen hatte, verstärkten das Anliegen einer biblisch begründeten Lebensorientierung gegenüber jeglicher Ideologie. Aus diesem Grunde widerstand er sowohl den ideologischen Ansätzen der Studentenbewegung wie theologischen Moden, die von der biblischen Grundlage abweichen. Vor dem Hintergrund biblischer Orientierung ist in den späten 60er Jahren seine Mitwirkung an der Gründung des Tübinger Albrecht-Bengel-Hauses als eines bekenntnistreuen Studienhauses zu sehen wie auch der Protest, den der Emeritus Michel 1988 gemeinsam mit dem Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus und dem späteren württembergischen Landesbischof Gerhard Maier dagegen erhob, dass die Tübinger evangelisch-theologische Fakultät den Dr.-Leopold-Lucas-Preis an den 14. Dalai Lama verlieh. Es könne nicht Aufgabe einer Evangelisch-Theologischen Fakultät sein, einer Person einen Preis zu verleihen, die den Anspruch erhebt, die Inkarnation einer Gottheit zu sein.

Werk

Michels wissenschaftliches Werk umfasst exegetische Kommentare zum Hebräerbrief und zum Römerbrief sowie eine Reihe von monographischen Facharbeiten und Aufsätze zur neutestamentlichen Exegese. Darüber hinaus gab er gemeinsam mit Otto Bauernfeind eine kommentierte zweisprachige Ausgabe von Flavius Josephus’ „De Bello Iudaico“ heraus.

Sein exegetisches Bemühen geht dahin, das Neue Testament weniger vor einem hellenistischen Hintergrund zu verstehen als vor einem alttestamentlich-jüdischen. In diesem Zusammenhang sind auch die Gründung des Institutum Judaicum in Tübingen zu sehen wie die Kontakte zu jüdischen Gelehrten, die Michel nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte, unter anderem zu Martin Buber und zu Pinchas Lapide. Die Bemühung um christlich-jüdischen Dialog und um den Kontakt zu israelischen Wissenschaftlern ist zweifellos ein großes Verdienst Otto Michels.

Michel war bemüht, Theologie auf der Grundlage eines „hebräischen Denkens“ zu treiben, das weniger auf Abstraktion aus ist als das griechische Denken und daher offener für die lebendige geschichtliche Begegnung mit Gott. Für den Umgang mit der Bibel bedeutet das, dass nicht geistesgeschichtliche bedingte Vorgaben etwa in Fragen der Historizität oder des Gottesverständnisses den Rahmen für die Bibelinterpretation abgeben dürfen. Vielmehr gilt es, sich unter Verzicht auf menschlich-philosophische Vorverständnisse von den Texten der Bibel leiten zu lassen:

„Jeder Versuch, die Bibel menschlich in den Griff zu bekommen, muß scheitern. Das Grundthema muß heißen: ‚Laßt euch umgestalten durch die Erneuerung eurer Denkweise’ (Römer 12,2). Der Grundsatz bleibt also bestehen: Nicht der Mensch kritisiert die Heilige Schrift, sondern die Heilige Schrift kritisiert den Menschen.“[1]

Darin besteht nach Michel der Unterschied zwischen „Auslegung“ und „Interpretation“, wie er vor allem gegenüber der von Rudolf Bultmann und seinen Schülern betriebenen existentialen Interpretation hervorhebt:

„Auslegung ist für mich der Versuch, vergangene Geschichte und das Eingreifen Gottes in Denk- und Lebensprozesse wieder herauszuarbeiten (…) Auslegen heißt, den biblischen Text zu analysieren, verborgene Traditionszusammenhänge zu erschließen, die Aussageintentionen des Zeugnisses aufzudecken, Begriffe herauszustellen, Strukturen aufzuweisen, den Spuren des lebendigen Gottes in der Geschichte nachzugehen (…) Interpretation dagegen war für mich immer der Versuch, mich von falschen Denkstrukturen zu lösen, den richtigen Ausgangspunkt in der gegenwärtigen philosophischen Orientierung zu finden, von ihm aus meine eigene Konzeption zu entwickeln und mit dieser Konzeption den Text für mich fruchtbar zu machen. Nicht nur die ‚existentiale’, sondern jede ‚Interpretation’ in diesem Sinne ist für mich ein fragwürdiges Unterfangen, weil sie den gegenwärtigen Verstehenshorizont in das biblische Geschichtszeugnis hineinträgt und damit die Vergangenheit verfremdet.“[2]

Trotz Anerkennung der historisch-kritischen Methode in der Bibelwissenschaft steht Michels Exegese weniger in der Tradition der liberalen Theologie als in der einer konservativen heilsgeschichtlichen Ausrichtung wie etwa der von Franz Delitzsch, den er in seinen späteren Jahren ausdrücklich als Vorgänger nannte. [3]

Quellenangaben

  1. Mein Theologesein im Konflikt mit dem Zeitgeist; in: Anpassung oder Widerstand; 159
  2. A. a. O., 163f. Zu Michels Stellung zu Bultmann vgl. auch J.M. Wischnath: Am Wendepunkt – Otto Michel und sein „kritisches Wort“ zur Tübinger Fakultätsdenkschrift „Für und wider die Entmythologisierung Bultmanns“; in: H. Lindner (Hrsg.): Ich bin ein Hebräer, S. 48–78
  3. Vgl. dazu O. Michel, Mein Bekenntnis zu Franz Delitzsch, in: E. Lubahn/O. Rodenberg (Hrsg.), Von Gott erkannt. Gotteserkenntnis im hebräischen und griechischen Denken, Theologische Studienbeiträge 3, Stuttgart 1990, S. 155-163.

Bibliographie

Eine ausführliche Bibliographie von Thomas Pola und Rainer Riesner findet sich in: Ich bin ein Hebräer (siehe unter 4.), 417-444.

1. Wissenschaftliche Werke Michels:

a) Kommentare:

  • Der Brief an die Hebräer, Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament (KEK 13), Göttingen 14. Aufl. 1984.
  • Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 14. Aufl. 1978.

b) Monographien:

  • Paulus und seine Bibel, Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 2,18, Gütersloh 1929.
  • Prophet und Märtyrer, BFChT 37.2, Gütersloh 1932.
  • Das Zeugnis des Neuen Testaments von der Gemeinde, Gießen 3. Aufl. 1986.

c) Aufsatzband:

  • Dienst am Wort. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Klaus Haacker, Neukirchen-Vluyn 1986.

2. Andachten:

  • Aufsehen auf Jesus. Fünfzehn Bibelstudien. Mit einem Geleitwort von Rainer Riesner, Gießen 5. Aufl. 1996.

3. Autobiographie:

  • Anpassung oder Widerstand. Eine Autobiographie, Wuppertal und Zürich 1989.

4. Über Michel:

  • Helgo Lindner, Zu Otto Michels Theologie. Stichworte zur Erinnerung, in: ders., Biblisch. Gesammelte Aufsätze, Gießen/Basel 2006, 177-186.
  • Helgo Lindner (Hrsg.), Ich bin ein Hebräer. Zum Gedenken an Otto Michel (1903-1993), Gießen 2003.

Weblinks


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