Shimpū Tokkōtai

Shimpū Tokkōtai
Kamikazeangriff auf die USS Missouri. Der Kamikazeflieger ist links, am oberen Bildrand zu erkennen.
Die USS Louisville getroffen von einem Kamikaze im Golf von Lingayen, Januar 1945
Am 11. Mai 1945 trafen zwei Kamikaze-Flugzeuge im Abstand von 30 Sekunden die vor Kyushu kreuzende USS Bunker Hill (CV-17). Bilanz: 372 Tote und 264 Verwundete.

Shimpū Tokkōtai (jap. 神風特攻隊, Kamikaze-Spezialtruppen) war eine japanische Flieger-Spezialtruppe im Zweiten Weltkrieg.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Tokkōtai ist eine Abkürzung für tokubetsu kōgekitai (特別攻撃隊) = „Spezial-Angriffstruppe“. Die Tatsache, dass der bekannte Begriff Kamikaze in der japanischen Bezeichnung nicht auftaucht, liegt an einer Besonderheit der japanischen Sprache, die es erlaubt, bestimmte Schriftzeichen (die Kanji) je nach Zusammenhang verschieden auszusprechen. Shimpū ist die Aussprache von 神風 nach der On-Lesung, Kamikaze die Aussprache desselben Zeichenpaares in der Kun-Lesung, die aber bei Kanji-Zusammensetzungen die Ausnahme ist. Der Begriff „Kamikaze“ selbst steht im Deutschen für einen Selbstmordangriff auf militärische Ziele, im übertragenen Sinn aber auch für selbstschadende Handlungen.

Die Bezeichnung „Kamikaze“ bezeichnet im Japanischen den „göttlichen Wind“ oder auch „Hauch Gottes“ in Form von zwei Taifunen, die zwei mongolische Eroberungsversuche Kublai Khans im 13. Jahrhundert scheitern ließen (siehe auch Kamikaze (Mongoleneinfall)).

Kamikaze-Einsätze in Japan

Ausgangslage

Als die militärische Lage für die japanischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg immer aussichtsloser wurde, stellte die japanische Marine 1944 Sonderkampfverbände ihrer Marineflieger auf, die mit ihren Flugzeugen Selbstopferangriffe auf die amerikanischen Schiffe während des Pazifikkriegs durchführen sollten („Ein Schiff – ein Flugzeug“), in der Hoffnung, die drohende Niederlage dadurch abwenden zu können. Diese Einheiten wurden in Japan als Shimpū Tokkōtai bezeichnet. In den USA wurden die Schriftzeichen irrtümlich als „Kamikaze“ gelesen, wodurch sich dieser Begriff – allerdings nur außerhalb Japans – für koordinierte Selbstopferangriffe etabliert hat.

Die Bezeichnung „Selbstmordangriff“ wird zwar häufig verwendet, ist aber im Kern unzutreffend, da sie der Motivation der Piloten nicht gerecht wird.

Pilotenrekrutierung

Die populäre Ansicht, die meist jungen und unerfahrenen Piloten seien durch psychische Folter zum Einsatz als Selbstmordpilot gezwungen worden, speist sich aus den Erzählungen überlebender Piloten des Heeres. Dem gegenüber akzeptierte die Marineluftwaffe nur Freiwillige. Verheiratete, erstgeborene und einzige Söhne wurden abgelehnt (dies führte im Falle des Oberleutnants z. S. Hajime Fuji dazu, dass sich seine Ehefrau mitsamt den beiden Kindern ertränkte, damit er sich seinen Herzenswunsch, einen „Tokko“-Einsatz zu fliegen, erfüllen konnte). Entgegen der in der westlichen Gesellschaft vorherrschenden Meinung waren es meist keine nationalistischen Fanatiker, die zu sterben bereit waren, sondern zum einen Soldaten, die um die Aussichtslosigkeit konventioneller Einsätze wussten, aber auch Studenten und Absolventen der Mittelschulen, die ihren Teil zur Abwendung der Niederlage beitragen wollten. Dem gegenüber standen aber auch solche, die schlichtweg den Befehl dazu bekamen. Eine Zwischenstellung nahmen diejenigen ein, die zwar nicht innerlich überzeugt waren, sich aber der Gruppe fügten (sich außerhalb der Gruppe zu stellen war in der japanischen Gesellschaft unüblich). Die persönliche Ehre, aber auch die der Familie, hatte seit Jahrhunderten höchsten Stellenwert, auch hieraus speisten sich Entscheidungen, zur Freiwilligmeldung oder sich zumindest in das Schicksal zu ergeben. Der Opfertod wurde von Seiten des Militärs als heroenhafte Tat proklamiert und galt als Kriegspflicht der Ausgesuchten, wenn damit der Sieg zu erringen war. Dieses Opfer zum Schutze des Vaterlandes und des Kaisers zu erbringen, knüpfte in der japanischen Kriegspropaganda an die Tradition der Samurai und deren ethische Auffassung in der japanischen Moderne an. Höher gestellte Offiziere gehörten allerdings selten zu dieser Gruppe der Ausgewählten. Eine bekannte Ausnahme bildete dabei der besagte Kaigun-Chūi[1] Hajime Fujii, der die Kumagaya-Armeefliegerschule leitete und junge Soldaten in Charakter und mentaler Stärke ausbildete. Er entschloss sich, als seine Eleven für diese Flüge plötzlich ausgesucht wurden, freiwillig seine Schüler beim Kriegsgeschehen in der Luft zu begleiten, da er sie nicht alleine sterben lassen wollte.

Einsätze

Geflogen wurde zwar meist im Verband, ein „Kikusui“-Einsatz konnte teilweise mehrere hundert Flugzeuge umfassen. Von diesen fiel aber ein Teil der Fernsicherung durch Jagdflugzeuge zum Opfer, ein weiterer Teil anschließend den Flugabwehrgeschützen des US-Verbands. Nur ein kleiner Teil hatte damit tatsächlich Gelegenheit, das Motto „Ein Flugzeug, ein Schiff“ in die Tat umzusetzen (wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass vor allem in der Spätphase nur sehr unzureichend ausgebildete Piloten zum Einsatz kamen). Wurde ein Treffer erzielt, war es keineswegs die Bombe, die den meisten Schaden verursachte. Viel gefährlicher war der Brand des restlichen Flugzeugtreibstoffs, der sich im Falle von Flugzeugträgern im Hangardeck unterhalb des Flugdecks ausbreitete und die dort gelagerte Munition zur Explosion bringen konnte (so bei allen drei versenkten amerikanischen Geleitträgern). Als auf japanischer Seite Treibstoffmangel dazu zwang, die Maschinen nur für den Hinflug aufzutanken, wurde unfreiwillig auch die Trefferwirkung vermindert.

Der erste „Tokko“-Einsatz – geflogen von Freiwilligen des Marineflieger-Geschwaders 201 – fand am 25. Oktober 1944 auf den Geleitträgerverband 77.4.3 („Taffy 3“) vor Leyte statt. Er resultierte in der Versenkung der CVE-63 „St. Lo“ sowie Beschädigung von vier weiteren Geleitträgern. In Japan wird zwar gerne ein Einsatz von Admiral Arima am 20. Oktober 1944 zitiert (übernommen von Bernard Millot), aber weder auf der CV-9 „Essex“ noch einem anderen amerikanischen Schiff ist für diesen Zeitpunkt ein Angriff oder gar ein Treffer bekannt.

Belastungen

Abgesehen von der reinen Zahl an Beschädigungen oder Versenkungen darf ein Aspekt dieser Einsatzart nicht außer Acht gelassen werden: Die nervliche Belastung der amerikanischen Schiffsbesatzungen. Die Zahl der Kriegsneurosen auf amerikanischer Seite erreichte schließlich ein Maß, das der Marineleitung Anlass zu ernster Besorgnis gab. Insgesamt gesehen war deshalb „Kamikaze“ keineswegs ein völlig nutzloses Unterfangen.

Lange Zeit war weitgehend unbekannt, dass hunderte Flieger dieser Spezialtrupps den Krieg überlebten, da sie entweder kurz vor dem Ziel umkehrten, was seltener geschah, oder nicht mehr zum Einsatz kamen. Da die Kapitulation Japans die Selbstopferangriffe auf Flotten beendete und Piloten in der Zeit der Verhandlungen noch viele Monate auf Suizidziele warteten, die dann aber nicht mehr eintraten, wurde diesen Fliegern ihr Opfer erspart. In den japanischen Medien wurden die wahren Umstände, wie die Todesflieger zu ihrer Aufgabe kamen, nach Kriegsende lange verschwiegen.

Opfer und Schäden

Im Zusammenhang mit diesen Selbstopferangriffen auf die amerikanische Flotte starben mehr als 3000 japanische Flieger (die genaue Zahl ist nie ermittelt worden). Dabei wurden nach Angaben der amerikanischen Marine insgesamt 36 Schiffe der US-Pazifikflotte versenkt (u. a. die USS St. Lo (am 25. Oktober 1944, 163 Tote), später Ommaney Bay (4. Januar 1945, 95 Tote) und USS Bismarck Sea (21. Februar 1945, 318 Tote)). 368 Schiffe wurden beschädigt. Von den großen Flottenträgern wurde zwar jeder mindestens einmal getroffen, aber lediglich die USS Bunker Hill und die USS Enterprise so schwer, dass sie für den Rest des Krieges ausfielen. Hauptleidtragende waren Zerstörer der Frühwarnkette und Unterstützungsschiffe.

Reaktionen

Persönliche Ehrungen für Kamikaze-Flieger wurden grundsätzlich unterlassen. Lediglich allgemeingültige Kriegsdenkmäler für die „Tokkō-tai“ wurden aufgestellt. Erst in den letzten Jahren wird in Museen ausführliche Aufklärung über das Schicksal der Todesflieger betrieben. In der westlichen Welt wurden speziell die Soldaten dieses Fliegertodestrupps lange irrtümlich als nationalistisch-fanatisierte Kriegsanhänger interpretiert, welches sich aber nun, mit mehr und mehr aufarbeitenden Hintergrundinformationen und Interviews mit Zeitzeugen, anders darstellt. Vielmehr kann man auf Grund der hinterlassenen Tagebücher und Abschiedsbriefe der Todesflieger die Ausweglosigkeit und die Verzweiflung derer feststellen, die sich der militärischen Macht und den Erwartungen von Ehre und Vermeidung von Schande für das Vaterland fügten. Die Kaiserlich Japanische Armee stand in dem Ruf, besonders brutal und grausam zu sein, nicht nur gegenüber Soldaten und Zivilisten des Feindes, sondern auch gegenüber dem eigenen Volk und den eigenen Soldaten. Die freie Entscheidung des Einzelnen war unwichtig und unter den Willen der Monarchie zu stellen. Von einer Beteiligung des Tennos Hirohito ist nichts bekannt. Als man ihm vom ersten derartigen Angriff berichtete, soll er den Erfolg begrüßt, das Schicksal des Piloten aber bedauert haben. Im Übrigen hatte der Tenno keineswegs die Stellung eines Kaisers nach deutschem Verständnis. Der Tenno, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu angesehen, war mehr spirituelles Oberhaupt Japans. Beteiligung an der Tagespolitik oder gar Befehle zu erteilen, lag weder in seiner Kompetenz, noch wurde solches erwartet. Die Macht lag ausschließlich bei der Militärregierung des Generals Tojo.

Am 15. August 1945 bat der Schöpfer und Kommandeur der Tokkō-tai, Vizeadmiral Ōnishi Takijirō (大西 瀧次郎), die Familien der geopferten Piloten um Vergebung und tötete sich.

Eine Yokosuka MXY-7, ein Modell, das ausschließlich für Kamikaze-Einsätze gebaut wurde, ausgestellt im Museum of Science and Industry in Manchester in Manchester, England.

Einige der eingesetzten Flugzeugtypen:

Bemannte Torpedos

Neben Flugzeugen wurden durch die Japaner auch bemannte Torpedos (Kaiten) eingesetzt, bei welchen der Fahrer in einer primitiven Kabine saß und nur über ein Sehrohr zur Außensicht verfügte. Bereits in der Testphase kam einer der zwei Entwickler ums Leben: Noch ehe der Sauerstoff ausging, notierte er, wie solche Probleme zukünftig zu vermeiden wären. Die Erfolge des technisch unzuverlässigen Kaiten blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Bei der Versenkung des amerikanischen Flottentankers USS Mississinewa (AO-59) (20. November 1944, 63 Tote) trug entscheidend bei, dass die Restladung unzureichend gesichert war. Der zweite Erfolg war die Versenkung des Zerstörers USS Underhill (DE-682) (24. Juli 1945, 112 Tote).

Die bemannten Torpedos wurden durch U-Boote möglichst nahe an gegnerische Schiffe gebracht, die jedoch in vielen Fällen bereits auf dem Weg in das Zielgebiet durch die amerikanische U-Boot-Abwehr versenkt wurden.

Kamikaze-Taktik in anderen Ländern

Von sowjetischen Piloten wurde in der Anfangsphase des Unternehmen Barbarossa gegen die deutsche Luftwaffe vereinzelt zur Taktik des Rammstoßes gegriffen. Dabei nahm der Pilot den Tod in Kauf.[2] Allerdings geschahen diese Attacken aus freien Stücken und waren nicht von höherer Stelle angeordnet. Auf deutscher Seite wurde gegen Kriegsende 1944 mit dem SS-Selbstopferkommando Leonidas ein ähnliches Militärprojekt angedacht. Beim verwandten Sonderkommando Elbe sollten die Piloten hingegen mit dem Fallschirm abspringen.

Literatur

Deutsch

  • NDR 2000, 3-SAT, 20. Januar 2010, Kamikaze.
  • Wilfried Eck: Eine Frage der Ehre, Kamikaze. Jet&Prop 3/2006
  • Klaus Scherer: Kamikaze. Iudicium 2001, ISBN 3-89129-728-9.
  • Rikihei Inoguchi, Tadashi Nakajima: Der Tod fliegt mit uns : Japans Kamikaze- Piloten berichten. Edition Sven Bergh 1982, ISBN 3-430-14955-X.
  • Bernard Millot: Kamikaze. Geist, Organisation und Einsatz der japanischen Todespiloten. Neff 1982, ISBN 3-7014-0042-3.
  • Bohdan Arct: Kamikaze. WeymannBauerverlag 1998, ISBN 3-929395-38-X.

Englisch/Japanisch

  • M.G. Sheftall: Blossoms In The Wind. ISBN 0-451-21487-0.
  • Albert Axell, Hideaki Kase: Kamikaze: Japan’s Suicide Gods. Longman 2002, ISBN 0-582-77232-X.
  • Senri Nagasue: Shiragiku tokkōtai: kaerazaru wakawashitachi eno chinkonfu (Kamikaze by Siragiku). Kōjinsha, 2002, ISBN 4-7698-2363-0.
  • Rikihei Inoguchi, Tadashi Nakajima, Roger Pineau: The Divine Wind: Japan’s Kamikaze Force in World War II. Naval Institute Press, 1994, ISBN 1-55750-394-X.
  • Hatsuho Naito, Mayumi Ichikawa: Thunder Gods: The Kamikaze Pilots Tell Their Story. Kodansha America, 1989, ISBN 0-87011-909-5.
  • Ohnuki-Tierney Emiko: Kamikaze Diaries. University of Chicago Press., 2006, ISBN 0-226-61951-6.
  • M.G. Sheftall: Blossoms in The Wind. 2005, ISBN 0-451-21487-0.

DVD

  • Kamikaze: War in the Pacific. Red Distribution, 2004.
  • Kamikaze in Color. Goldhil Home Media I, 2002.

Weblinks

 Commons: Kamikaze – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Der japanische Rang Chūi entspricht dem deutschen Dienstgrad Oberleutnant zur See. Der Vorsatz Kaigun- zeigt an, dass es sich um einen Marineoffizier handelt.
  2. Olaf Groehler: Kampf um die Luftherrschaft. Berlin 1988, S.72 f.

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