Deutsch-Niederländische Grenzfrage

Deutsch-Niederländische Grenzfrage
Deutsch-Niederländische Grenzfrage

Die Deutsch-Niederländische Grenzfrage betrifft das Gebiet des Ems-Ästuars an der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Niederlande. Während die Niederlande den Talweg als ihre Grenze betrachtet, vertritt Deutschland den Standpunkt, die Staatsgrenze verlaufe am linken Ufer der Ems. Die ungeklärte Situation führt immer wieder zu Konflikten, etwa im Bereich des Fischfangs.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund und Vorgeschichte

Das umstrittene Küstengebiet liegt zwischen der Provinz Groningen und der historischen Region Ostfriesland, dem Nordwestteil von Niedersachsen.

Eine geschlossene Territorialherrschaft bildete sich in Ostfriesland am 1. Oktober 1464, als Ulrich Cirksena im Kloster Faldern von Kaiser Friedrich III. in den Reichsgrafenstand erhoben und mit Ostfriesland als Reichsgrafschaft belehnt wurde.[1] Im Lehnsbrief heißt es wörtlich, die Reichsgrafschaft umfasse

„wonung, wesen und sloss Norden, Emeden, Emesgonien, mit den slossen Gretzil, Berum, Aurike, Lerort und Stickhusen, die da geen uns stossen von der Westeremse osterwards biss an die Weser, von der see zutwert biss an die teutschen palen“.[2]

Obgleich die Cirksena den hier verbrieften Herrschaftsanspruch nie gänzlich durchsetzen konnten – so gehört das Harlingerland erst seit 1600 zu Ostfriesland und das Butjadinger- sowie das Jeverland gingen 1529 und 1575 endgültig verloren und fielen an Oldenburg[3] –, beruft sich Deutschland auf diese Urkunde und macht geltend, dass die Grafen und Fürsten von Ostfriesland und ihre Rechtsnachfolger die Hoheit über die ganze Ems ununterbrochen ausgeübt hätten.[4] Völkerrechtlich relevant wurde die Frage erstmals nach dem Dreißigjährigen Krieg, als die Niederlande im Frieden von Münster als Teil des Westfälischen Friedens am 30. Januar 1648 auch formell aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausschieden. In diesem Vertragswerk wird ausdrücklich der territoriale Status Quo festgehalten. Das Fürstentum Ostfriesland kam durch innere Machtkämpfe unter den Einfluss der Niederlande und lehnte sich politisch, kulturell und wirtschaftlich eng an diese an. Die Niederlande stationierten an zentralen Orten Truppen, darunter in der Festung Leerort bei Leer und in Emden. Die Grenzfrage hatte somit keinerlei praktische Bedeutung.

Nach dem Aussterben des ostfriesischen Grafen- und Fürstenhauses ergriff 1744 der preußische König Friedrich der Große unverzüglich und ungehindert Besitz von dem Fürstentum; von Emden ausgehend ließ er es besetzen. Die niederländischen Garnisonen wurden kurz darauf abgezogen. Die Grenzziehung im Bereich der Außenems blieb offen. Während der Napoleonischen Eroberungsfeldzüge wurde Ostfriesland 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt in das Königreich Holland eingegliedert. Diese Annexion wurde 1807 von Preußen im Frieden von Tilsit anerkannt.[5]

Am 9. Juli 1810 kam es als Departement Ems-Orientale (Osterems) unmittelbar zum französischen Kaiserreich. Das westliche Ostfriesland (Rheiderland) wurde aufgrund alter niederländischer Ansprüche aus Ostfriesland ausgegliedert und dem niederländischen Département Ems-Occidental mit der Hauptstadt Groningen zugeschlagen; das Département Osterems erhielt dafür die Herrschaften Herrschaft Jever und Kniphausen mit Varel. Nach dem Zusammenbruch der Napoleonischen Herrschaft zogen in den Jahren 1813 bis 1815 erneut die Preußen ein, und die alten Landesgrenzen wurden wieder hergestellt, ohne jedoch den Verlauf im Küstenbereich zu regeln.

Im Wiener Kongress wurde die territoriale Ordnung Europas neu festgelegt. Preußen musste Ostfriesland an das Königreich Hannover abtreten. Dort heißt es:

„Der König von Preußen tritt an den König von Großbritannien und Hannover das Fürstentum Ostfriesland ab unter den Bedingungen, die im Artikel 5 über die Emsschifffahrt und den Handel im Emder Hafen gegenseitig festgelegt sind. Die Stände des Fürstentums werden ihre Rechte und Privilegien behalten.“

Schlussakte des Wiener Kongresses: Artikel 27

Zwischen dem Königreichen Hannover und dem der Niederlande wurde wenige Jahre später am 2. Juli 1824 in Meppen ein Grenzvertrag geschlossen, der seitdem die Grundlage für den Grenzverlauf auf dem Festland und im südlichen Dollart bildet. Über den weiteren Verlauf der Grenze im Dollart, Emsmündung und im Küstenmeer hingegen wurden in dem Vertrag keine Vereinbarungen getroffen.[6] Daran änderte sich auch nichts, als Ostfriesland nach dem Deutschen Krieg durch die Annexion des Königreichs Hannover 1866 wieder zu Preußen kam und mit ihm 1871 Teil des Deutschen Reiches wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg planten die Niederlande ab 1945, große Gebietsteile entlang der deutsch-niederländischen Grenze zu annektieren. In Ostfriesland umfasste dies die „Emsmündung vom Ausgang des Dollarts bis zur offenen See beiderseits Borkums, die Insel Borkum, den Küstenstreifen auf dem deutschen Ufer von der Knock bis Pilsum, den bisher deutschen Teil des Dollarts und das Rheiderland“.[7] Mit diesem Vorhaben scheiterten die Niederlande jedoch vor der Alliierten Hohen Kommission. Am 5. April 1957 begannen in Bonn die deutsch-niederländischen Ausgleichsverhandlungen über Grenzfragen, Kriegsfolgen und andere Probleme. Sie mündeten in den am 8. April 1960 geschlossenen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Regelung von Grenzfragen und anderen zwischen beiden Ländern bestehenden Problemen (Ausgleichsvertrag). In einem Teil dieses Vertragswerks, dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Regelung der Zusammenarbeit in der Emsmündung, behielten sich beide Staaten ihre Rechtsstandpunkte über den Verlauf der Staatsgrenze ausdrücklich vor. In Artikel 46 Absatz 1 heißt es:

„Die Bestimmungen dieses Vertrags berühren nicht die Frage des Verlaufs der Staatsgrenze in der Emsmündung. Jede Vertragspartei behält sich insoweit ihren Rechtsstandpunkt vor.“[8]

Zur Regelung strittiger Fragen wurde eine Emskommission gebildet. Sie besteht aus jeweils drei Emskommissaren und weiteren Sachverständigen aus den deutschen und niederländischen Verkehrsministerien und Wasserbaubehörden.[9]

In Folge wurde dieser Vertrag mehrfach ergänzt. Am 14. Mai 1962 wurde von beiden Seiten ein Zusatzabkommen geschlossen, das das Aufspüren und die Gewinnung von Bodenschätzen im Vertragsgebiet regelt. Es folgten ein Vertrag über die gemeinsame Information und Beratung der Schifffahrt in der Emsmündung durch Landradar- und Revierfunkanlagen (9. Dezember 1980), der Kooperationsvertrag Ems-Dollart (10. September 1984) und ein Ems-Dollart-Umweltprotokoll vom 22. August 1996, das den Vertragstext von 1960 direkt ergänzt. Zur Regelung der Schifffahrt im umstrittenen Gebiet wurde am 22. Dezember 1986 die Schifffahrtsordnung Emsmündung getroffen, die am 1. Oktober 1989 in Kraft trat.

Aktueller Stand

Nach wie vor ist für das Gebiet der Emsmündung unterhalb von Emden die Staatsgrenze nicht völkerrechtlich festgelegt. Mehrere Verträge regeln die jeweiligen Kompetenzen. Als wichtigster gilt der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Regelung der Zusammenarbeit in der Emsmündung vom 8. April 1960, in dem beide Staaten vereinbarten, im Bereich der Emsmündung im „Geiste guter Nachbarschaft“ zusammenzuarbeiten, um die seewärtige Verbindung ihrer Häfen (Eemshaven, Delfzijl, Emden, Leer und Papenburg) zu gewährleisten.

Akut wurde die Frage erneut 2011, als es um die Genehmigung des geplanten Off-Shore Windparks Riffgat vor Borkum ging. Von deutschen Behörden genehmigt für deutsches Gewässergebiet, aber vielleicht in den umstrittenen Gewässerzonen gelegen, wurden Gespräche mit den Niederlanden wieder aktuell.

Einzelnachweise

  1. Niedersachsen.de: Geschichte der Regionen: Ostfriesland
  2. Heinrich Schmidt: Politische Geschichte Ostfrieslands. In: Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 5, Leer 1975, S. 63
  3. Christoph Ohlig: Ostfriesland und das Land Oldenburg im Schutz der Deiche und weitere wasserhistorische Beiträge, 2005, ISBN 3833415037, S. 3
  4. Eckart Krömer, Heino Schmidt, Hajo van Lengen: Ostfriesland, Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Leer 1987, S. 68
  5. Walter Deeters: Kleinstaat und Provinz. Allgemeine Geschichte der Neuzeit; in: Karl-Ernst Behre, Hajo van Lengen: Ostfriesland. Geschichte und Gestalt einer Kulturlandschaft; Ostfriesische Landschaft, Aurich 1995, ISBN 3-925365-85-0; S. 167
  6. Daniel-Erasmus Khan: Die deutschen Staatsgrenzen. Rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen, 2004, ISBN 3161484037; S. 421
  7. Hermann Aubin, Eberhard Menzel: Die Niederländischen Ansprüche auf die Emsmündung. Hamburg o.J., S. 8
  8. Hier zitiert aus Daniel-Erasmus Khan: Die deutschen Staatsgrenzen. Rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen, 2004, ISBN 3161484037; S. 418
  9. Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nordwest: Wechsel in der Emskommission Presseinformation vom 1. August 2006

Literatur

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