kirchenfern

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Als kirchenfern oder fernstehend werden im Sprachgebrauch von Seelsorgern und christlichen Gemeinden Personen oder Bevölkerungsschichten bezeichnet, der der Kirche gleichgültig bis ablehnend gegenüberstehen, aber ihr offiziell noch angehören (vulgo „Taufschein-Christen“).

Inhaltsverzeichnis

Gegenwärtige Situation

Nach Untersuchungen von Paul Zulehner und anderen Pastoraltheologen ist dies keineswegs gleichbedeutend mit fehlendem Glauben an Gott oder ein Höheres Wesen, sondern kann auch soziologisch bedingt sein (z.B. in Teilen der Arbeiterbewegung) oder durch negative Erfahrungen mit Vertretern der Kirche oder einzelnen Gläubigen.

Verschiedene Umfragen unter Jugendlichen zeigen oft starkes Interesse an ethischen Themen, an der Metaphysik oder Fragen nach dem Sinn des Lebens. An ein Weiterleben nach dem Tod glauben z.B. in Österreich (Salzb.Nachrichten Okt.2010) etwa zwei Drittel der Befragten, manche allerdings in Form einer denkbaren Wiedergeburt. Etwas höher ist der Glaube an ein „Höheres Wesen“, aber nicht unbedingt an einen personalen Gott.

Die im kirchlichen Bereich bekannt gewordenen Missbrauchsfälle haben zwar die Kirchenaustritte vorübergehend erhöht, aber auch die Aufmerksamkeit auf solche Fälle im Allgemeinen. Diese erhöhte Sensibilität wird teilweise der Kirche wieder zugute gehalten.

„Gläubig, aber kirchenfern“

Konkrete Zahlen für Deutschland nennt ein Artikel der Zeit vom 24.Juni 2010. Danach nahm in den letzten 100 Jahren der Bevölkerungsanteil der Kirchenmitglieder - evangelischer wie katholischer - erheblich ab. 1910 waren 51,4 Prozent der Deutschen katholisch und 46,9 Prozent evangelisch. Nun sind es etwa 32 bzw. 30 Prozent, die zumindest formell einer der beiden Kirchen angehören.

Im Jahr 2005 kehrten 121 000 Katholiken und 169 000 Protestanten ihrer Kirche den Rücken (diese Zahlen haben sich seither - mit Ausnahme von 2010 - nicht stark verändert). Ein Teil wird durch Wiedereintritte ausgeglichen, doch von 1990–2008 ist die Mitgliederbilanz etwa -2,5 bzw. -3,8 Millionen. Für ein genaueres Bild wäre dem allerdings die Zahl der Taufen, Übertritte und Beerdigungen gegenüberzustellen.

Die emotionale Bindung sank ebenfalls. So fühlt sich nach Umfragen nur jeder zweite der etwa 25 Millionen Katholiken mit der Amtskirche verbunden. Bei den Protestanten ist dieser Prozentsatz traditionell etwas geringer.

Die derzeitige Situation beleuchtet eine Forsa-Umfrage vom Frühjahr 2010. Danach denken 20-25% über einen Kirchenaustritt nach, darunter sogar 19 Prozent jener, die sich selbst als „tiefgläubig“ bezeichnen. Im Juni erhob das Meinungsforschungsinstitut Allensbach, dass sich von den Katholiken nur 54 Prozent der Kirche verbunden fühlen, von diesen aber 37 Prozent durchaus kritisch.

Typologie der Kirchenmitgliedschaft

Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erforscht der evangelische Pfarrer G.Kretzschmar die Bindekräfte zwischen Kirche und Gesellschaft. In seinem Buch über Kirchenbindung (2007) analysiert er u.a. die Daten der vierten EKD-Umfrage aufgrund folgender Typologie der evangelischen Christen in Deutschland:

  1. Religiös und kirchennah: Große Übereinstimmung mit christlichen Überzeugungen und Gottesglauben, hohe Verbundenheit und rege Teilnahme am kirchlichen Leben
  2. Wenig religiös, aber kirchennah: Ablehnung christliche Glaubensüberzeugungen, Kirchenverbundenheit jedoch wie (1)
  3. Religiös und kirchenfern: Große Zustimmung zu christlich-religiösen Erfahrungen und Glaubensinhalten, aber geringe Verbundenheit mit der Kirche und kaum Teilnahme an ihrem Leben
  4. Etwas religiös und etwas kirchennah: mittlere Positionierung bei Religiosität und Kirchlichkeit
  5. Nicht religiös und kirchenfern: Ablehnende Haltung zu christlichem Gottesglauben und christlich-religiösen Erfahrungen, seltene bis keine Beteiligung am kirchlichen Leben.

Die teilweise paradoxen Umfrageergebnisse können nach Kretzschmar damit zusammenhängen, dass die erfragte Kirchenbindung nach dem Zustimmungsgrad zu Aussagen über christliche Religiosität und Kirchlichkeit gemessen wurde, die Wechselwirkungen von Kirchenbindung und Religiosität jedoch für solche Umfragen zu komplex sind. Teile des Effekts (2) können durch Zustimmung zum sozialen Engagement der Kirche entstehen.

Eine repräsentative Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung in West- und Ostdeutschland ergab 2003, dass sich 70 % der Befragten mit der Kirche verbunden fühlen - was allerdings dem Prozentsatz der Kirchgänger krass widerspricht. Die EKD äußerte sich skeptisch dazu, weil sie die geäußerte "Verbundenheit" noch nicht als Kirchenbindung ansieht. Andererseits könnten auch die 30 % Kirchenfernen eine gewisse Beziehung zur Kirche haben. Kretzschmar schlägt daher einen modifizierten Bindungsbegriff vor, der neben sozialer Nähe auch die soziale Distanz betrachtet. Letztere lasse sich teilweise auch aus der Biografie der Befragten erkennen.

Die Umfrage unter Mitgliedern der EKD gibt übrigens für ihre Verbundenheit 74 Prozent an, wobei dieser Wert seit 1972 eine "leicht steigende Tendenz" aufweist. Viele definieren jedoch ihre Kirchenverhältnis nicht über soziale Nähe und besuchen selten den Sonntagsgottesdienst (meist nur zu Festen wie Weihnachten), nehmen aber kirchliche Amtshandlungen in Anspruch, schätzen den Pfarrer und lassen ihre Kinder selbstverständlich taufen.

Bei den Katholiken ist zwar der Anteil der Kirchgänger deutlich höher, aber auch jener der Distanzierten. Die Allensbach-Umfrage (2.Weblink) ordnet 17 Prozent dem Typus (1) zu, 37 % sehen sich "kritisch kirchenverbunden" und weitere 32 Prozent "kirchlich distanziert".

Spiritualität von Fernstehenden

Viele Umfragen zeigen, dass in Europa Kirchenferne keineswegs Ungläubigkeit bedeuten muss. Ihre Ursachen können vielfältig sein und reichen von kirchenferner Kindheit und Jugend (keine Taufe, kein Religionsunterricht, Kirchenaustritt der Eltern, atheistisches Milieu, Jugendklub usw.) über negative Erfahrungen mit Vertretern der Kirche (z.B. Religionslehrer, Pfarrer, Begräbnis, übertriebene Religiosität von Nachbarn) bis zum Problem des Leids in der Welt (Theodizee) und bewusster Ablehnung des christlichen Gottesbildes. Wie die deutsche Studie Männer und ihre Spiritualität (2006) zeigt, ist für Fernstehende weniger ein personaler Gott vorstellbar, der am Leben der Menschen Anteil nimmt, sondern eher ein Schöpfer, der nicht ins Geschehen eingreift. Deshalb wurde ein zugrundeliegendes Forschungsprojekt "Die unsichtbare Religion kirchenferner Männer“ genannt.

Vorangegangene empirische Interviewstudien von Paul M. Zulehner und Rainer Volz lassen neben Prozentzahlen auch quantitative Aussagen (Prioritäten, Meinungen, Einstellungen) zu unterschiedlichen Gruppen der deutschen bzw. österreichischen Bevölkerung (ohne Migranten) zu. Die Antworten auf vorgegebene schriftliche Fragen (Items) wurden von den Wissenschaftern zu "Bündeln" (Cluster) verdichtet und miteinander in Beziehung gesetzt. Sie zeigen typische Einstellungen zu Theologie und Kirche, die mit Bildern der Geschlechterrolle korrelieren. Zulehner unterscheidet die Typen des "traditionellen", des "unsicheren" (unbestimmten), des "pragmatischen" und des "neuen" Manns mit sehr verschiedener Beteiligung am Sonntagsgottesdienst und kirchlichen Leben. Trotz abnehmender Kirchlichkeit - speziell bei geschlechterdemokratisch "erneuerten" bzw. jüngeren Männern - bezeichnen sich aber 60 % der Männer als "religiös" (Frauen zu 74%, 2.österr. Männerstudie 2002). Oft bestehen Widersprüche zwischen der kognitiven Ebene der Fragebögen bzw. Aussagen und der Ebene des Erlebens, der Wortwahl, nonverbaler Äußerungen und dem Habitus. Überspitzt zieht Zulehner das Resümee "Männer säkularisieren, Frauen spiritualisieren".

Bei Fernstehenden ist daher die Frage nach Sinngebung im Leben zielführender als nach Religiosität. Männer erkennen als sinnvoll hauptsächlich Phänomene, die für ihre Biografie positiv deutbar sind und ihre Handlungsfähigkeit erhöhen. Diese recht "irdische" Sicht passt aber nach H.Prömper zu heutigen Bemühungen, Glaube und Religion als "Zustimmung zur Welt" und als "Daseinsbewältigung im Horizont transzendenter Erfahrungen" zu sehen.

In der Lebenssicht zeigen sich große Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Männern und zwischen den Generationen, aber nicht entlang der Konfessionsgrenzen katholisch/evangelisch. Gemeinsam ist vielen die Ablehnung kirchlicher Lehren als Bevormundung, andrerseits die Offenheit für kosmologische und anthropologische Fragen, für Natur und Leben, Ethik und Familie.

Tiefeninterviews fördern oft den Begriff einer „Gegenwelt“ zutage, der die fremdbestimmte „Welt“ (v.a. Berufswelt und „Lebenskampf“) in Richtung selbstbestimmter Zeiten und Orte ergänzen soll. Gegenwelten werden von Männern aufgesucht, um Entlastung vom Alltag, neue Lebenskraft und Lebenssinn zu finden. Hier orten kirchliche Studien ein starkes Defizit in Seelsorge und Pastoral, wenn Fernstehende die Kirche der fremdbestimmenden, unfrei machenden „Welt“ zuordnen. Die moderne Kirche müsse eine sozial wirksame, offen Gegenwelt zu den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen bilden, die ja zunehmend mit Skepsis und ungutem Gefühl beobachtet wird. Die Studie "Was Männern Sinn gibt" nennt dazu als biblisches Leitmotiv gegen Stress und Konkurrenz den Ausspruch Jesu bei Matthäus 20,26: „Bei euch aber soll es nicht so sein“.

Teilweise zeigt sich die „Kirchenferne“ der befragten Männer als eine „Gottesferne“. In ihrer Sicht existiert Gott (vielleicht), hat aber mit ihrem konkreten Leben wenig zu tun. Sie sehnen sich nach Heil und Ganzheit in der Erfahrung von Kontingenz, Leid und Gebrochenheit; aber sie erfahren dies nicht in der Botschaft und Praxis der Kirche. Ihre (im Vergleich zu Frauen oft sprachlose) Offenheit für Transzendenz sucht nach Symbolen, Handlunge und Riten, die dem Leben Tiefgang geben. Primär müsste die Kirche also spirituelle Räume eröffnen, in denen Männer mit allen Sinnen (wieder) erfahren können, dass Gott ihrem Leben nahe ist.

Siehe auch

Literatur

Weblinks


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