Bruno Bettelheim

Bruno Bettelheim

Bruno Bettelheim (* 28. August 1903 in Wien; † 13. März 1990 in Silver Spring, Maryland, USA) war ein US-amerikanischer Psychoanalytiker und Kinderpsychologe österreichischer Abstammung.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Österreich

Als Sohn eines Sägewerkbesitzers zeigte Bruno Bettelheim schon als Vierzehnjähriger Interesse an der Psychoanalyse und bewegte sich bald im Kreis um Sigmund Freud. Während seines Germanistikstudiums an der Universität Wien kam er über die Kunstgeschichte zur Philosophie. Er schloss 1938 sein Studium mit einer Arbeit über Immanuel Kant („Das Problem des Naturschönen und die moderne Ästhetik“) ab.

Noch im selben Jahr wurde Bettelheim als Jude im KZ Dachau interniert und später in das KZ Buchenwald überführt. In Buchenwald freundete er sich mit Ernst Federn – Sohn des bekannten Wiener Psychoanalytikers Paul Federn – an. Gemeinsam entwickelten sie als Überlebensstrategie die Grundlagen einer Psychologie des Terrors. Nach knapp elf Monaten KZ-Aufenthalt wurde ihm aufgrund des Engagements amerikanischer Unterstützer (u. a. Eleanor Roosevelt) 1939 „erlaubt“, in die USA zu emigrieren.

Der akademische Grad war Bettelheim durch die Nationalsozialisten aberkannt worden. Die Universität Wien revidierte dies 2004.

Vereinigte Staaten

Seine Erfahrungen mit Extremsituationen im Konzentrationslager analysierte er 1943 in seinem Aufsatz Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, welcher auf Deutsch in seinem Buch Aufstand gegen die Masse publiziert wurde.

In den USA wurde Bettelheim zunächst Forschungsassistent an der University of Chicago. 1944 wurde er Leiter der dortigen „Orthogenic School“ und Assistenzprofessor für Kinder- und Jugendpsychologie, -psychiatrie und -pädagogik. Die Einrichtung war von ihm so genannt worden, um die Kinder für ihren späteren Werdegang weniger zu stigmatisieren. Zu einem seiner dortigen Schwerpunkte zählte die Behandlung autistischer Kinder, wobei er eine eigene, psychoanalytisch geprägte Theorie über Ursache und Genese des Autismus entwickelte. An der „Orthogenic School“ erarbeitete er mit der Unterstützung des Dekans der Chicagoer Universität, Ralph W. Tyler, die Milieutherapie, die wesentliche Weiterentwicklungen zu der bis dahin praktizierten analytischen Psychotherapie hervorbrachte.

Ab 1952 bis zu seiner Emeritierung 1973 war er ordentlicher Professor.

In seinem Buch Kinder brauchen Märchen 1976 interpretierte er die traditionellen Märchen der Brüder Grimm psychoanalytisch. Nach seiner Auffassung machen sie den Unterschied zwischen Lustprinzip und Verantwortungsprinzip deutlich. Trotz aller Grausamkeiten hielt er die Märchen für wertvoll, weil sie stets gut ausgingen. Den traurigen Märchen von Hans Christian Andersen fehle oftmals diese positive Perspektive.

Bettelheims Werke zeichnen sich durch ein Plädoyer für Humanität und Verständnis aus. Er galt in Europa und den USA jahrzehntelang als moralische und fachliche Autorität für Kindererziehung.

1990 erhielt der den Dr.-Leopold-Lucas-Preis. Im Jahr 1990, sechs Jahre nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau Trude und nach einem Schlaganfall, nahm sich Bettelheim das Leben, am Jahrestag des „Anschlusses“. Er hinterließ drei erwachsene Kinder, zwei Töchter und einen Sohn.

Kritik

Theorie der Kühlschrankmutter

An Bettelheim wird häufig kritisiert, in seiner Theorie über die Entstehung des Autismus werde Erziehungsfehlern der Mütter während der ersten Lebensjahre des Kindes eine besondere Bedeutung zugemessen („Kühlschrankmutter“). Bettelheims Theorie von der Psychogenese des Autismus gilt heute als überholt.

Gewaltvorwürfe

Kurz nach Bettelheims Tod wurde Kritik laut, unter anderem erschien im amerikanischen Nachrichtenmagazin Newsweek ein Artikel mit dem Titel Benno Brutalheim. Bettelheim habe die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit gefälscht und Kinder in der Orthogenic School geschlagen, darunter auch Kinder mit Autismus.

Die „Züchtigungen“ seien zum Teil spontan, öffentlich und aus für die Kinder nicht einsehbaren Gründen erfolgt, so die Aussage von ehemaligen Patienten. Etwa habe der Psychoanalytiker Bettelheim unbeabsichtigten Körperkontakt eines Kindes mit anderen Kindern beim gemeinsamen Sport als Manifestation unbewusster Aggression wahrgenommen. In Chicagoer Psychoanalytikerkreisen sei von Bettelheim daher schon Jahre vor seinem Tod als „Benno Brutalheim“ gesprochen worden.

Zu den Hauptkritikern zählt Richard Pollak, ehemaliger Herausgeber des Magazins The Nation, dessen Bruder in Bettelheims Obhut Suizid verübte. Zurückgewiesen durch Bettelheim und mit den Hintergründen über den Tod seines Bruders konfrontiert, stellt er in seiner Biografie Bettelheims dessen Lauterkeit in Frage.

Werke

Aufsätze

  • Individual and Mass Behavior in Extreme Situations in Journal of Abnormal and Social Psychology, 38: 417-452, 1943
  • Joey: A "Mechanical Boy", in Scientific American, 200, March 1959: 117-126.

Monografien

  • Love Is Not Enough: The Treatment of Emotionally Disturbed Children, Free Press, Glencoe, Ill., 1950,
    deutsch: Liebe allein genügt nicht: die Erziehung emotional gestörter Kinder, ISBN 3-608-95776-6
  • Symbolic Wounds; Puberty Rites and the Envious Male, Free Press, Glencoe, Ill., 1954
    deutsch: Symbolische Wunden: Pubertätsriten und der Neid des Mannes, ISBN 3-596-27322-6
  • Truants From Life; The Rehabilitation of Emotionally Disturbed Children, Free Press, Glencoe, Ill., 1955
    deutsch: So können sie nicht leben: die Rehabilitierung emotional gestörter Kinder, ISBN 3-608-94270-X
  • The Informed Heart: Autonomy in a Mass Age, The Free Press, Glencoe, Ill., 1960
    deutsch: Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, 1980, ISBN 3-596-42217-5
  • Dialogues with Mothers, The Free Press, Glencoe, Ill., 1962,
    deutsch: Gespräche mit Müttern, ISBN 3-492-10155-0
  • The Empty Fortress: Infantile autism and the birth of the self, The Free Press, New York, 1967,
    deutsch: Die Geburt des Selbst. The Empty Fortress. Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder, ISBN 3-596-42247-7
  • The Children of the Dream, Macmillan, London & New York, 1969,
    deutsch: Die Kinder der Zukunft. Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik., ISBN 3-423-00888-1
  • A Home for the Heart, Knopf, New York, 1974,
    deutsch: Der Weg aus dem Labyrinth: leben lernen als Therapie, ISBN 3-423-15051-3
  • The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales, Knopf, New York, 1976,
    deutsch: Kinder brauchen Märchen, ISBN 3-423-08495-2
  • Surviving and Other Essays, Knopf, New York, 1979,
    deutsch: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, 1982, ISBN 3-423-15056-4
  • On Learning to Read: The Child's Fascination with Meaning (with Karen Zelan), Knopf, New York, 1982
    deutsch: Kinder brauchen Bücher: Lesen lernen durch Faszination, ISBN 3-423-35026-1
  • Freud and Man's Soul, Knopf, New York, 1982,
    deutsch: Freud und die Seele des Menschen, ISBN 3-423-15026-2
  • A Good Enough Parent: A book on Child-Rearing, Knopf, New York, 1987,
    deutsch: Ein Leben für Kinder Erziehung in unserer Zeit, ISBN 3-407-22021-9
  • Un autre regard sur la folie
    deutsch: Liebe als Therapie: Gespräche über das Seelenleben des Kindes, 1989, ISBN 3-492-10257-3
  • Freud's Vienna and Other Essays, Knopf, New York, 1990,
    deutsch: Themen meines Lebens: Essays über Psychoanalyse, Kindererziehung und das jüdische Schicksal , ISBN 3-423-35062-8

Literatur

  • Ronald Angres: Who, Really, was Bruno Bettelheim? Commentary, 90, 1990, 4, 26-30
  • Rudolf Ekstein: Mein Freund Bruno (1903–1990). Wie ich mich an ihn erinnere. In: Roland Kaufhold (Hg.): Annäherung an Bruno Bettelheim. Grünewald, Mainz 1994, S. 87–94.
  • Bruno Bettelheim & Rudolf Ekstein: Grenzgänge zwischen den Kulturen. Das letzte Gespräch zwischen Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein. In: Kaufhold, Roland (ed.): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Grünewald), 1994, S. 49–60.
  • Ernst Federn (1999): Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager. In: Roland Kaufhold (Hg.): Ernst Federn. Versuche zur Psychologie des Terrors. Psychosozial-Verlag, Gießen 1999, S. 105–108.
  • David James Fisher: Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim. Gießen, Psychosozial-Verlag. Unter Mitarbeit von R. Kaufhold / M. Löffelholz. 2003
  • E. Frattaroli: Bruno Bettelheims Unrecognized Contribution to Psychoanalytic Thought. Psychoanalytic Review, Vol. 81, 1994, No. 3, 377-409
  • Katharina Hanstein-Moldenhauer (Hrsg.): Pädagogik und Psychoanalyse. Von Bettelheim lernen. Zum 100. Geburtstag Bruno Bettelheims. Amberg, Worpswede 2004, ISBN 3-00-014832-9 (Kongressbeitrag Münster/Westfalen, 2003)
  • Roland Kaufhold (Hg.): Pioniere der psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld. In: psychosozial Nr. 53, 1/1993
  • Roland Kaufhold: Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen (Psychosozial-Verlag), 2001
  • Roland Kaufhold, M. Löffelholz (Hg.): „So können sie nicht leben.“ Bruno Bettelheim (1903 – 1990). Zeitschrift für Politische Psychologie 1-3/2003.
  • Friedrich Koch: Der Aufbruch der Pädagogik. Welten im Kopf: Bettelheim, Freinet, Geheeb, Korczak, Montessori, Neill, Petersen, Zulliger. Hamburg 2000, ISBN 3-434-53026-6
  • Bernd Otto: Bruno Bettelheims Milieutherapie, 1. Auflage, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag, 1986.
  • Franz-Josef Krumenacker: Bettelheim, UTB 1998.
  • Theron Raines: Rising to the light. A portrait of Bruno Bettelheim, New York: Knopf 2002, ISBN 0-679-40196-2
  • Nina Sutton: Bruno Bettelheim, Hamburg, 1996
  • Sabine Wesely: Die Milieutherapie Bruno Bettelheims. Intention, Theorie und Praxis, In: Europäische Hochschulschriften. Reihe 6, Psychologie; Bd. 595, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien: Lang 1997, ISBN 3-631-31859-6

Kritische Diskussionsbeiträge:

  • Richard Pollak: The Creation of Dr. B: A Biography of Bruno Bettelheim, 1997, ISBN 0-684-80938-9
  • Roland Kaufhold: „Falsche Fabeln vom Guru?“ „Der Spiegel“ und sein Märchen vom bösen Juden Bruno Bettelheim. In: Behindertenpädagogik, 38. Jhg., Heft 2/1999, S. 160-187.

Weblinks



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