Handelsbetriebslehre

Handelsbetriebslehre

Die Handelsbetriebslehre als spezielle Betriebswirtschaftslehre des Handels beschäftigt sich vorwiegend mit den Erscheinungsformen und Entscheidungen im Groß- und Einzelhandel, also den Unternehmen des Binnenhandels, sowie im Außen- und Transithandel, also den Unternehmen des Außenhandels (institutioneller Handelsbegriff). Ergänzend sind auch Absatzmittler (Handelsvertretungen, Kommissionäre, Handelsmakler), Handelshilfsbetriebe und Elektronischer Handel (Online-Handel, Internethandel, E-Commerce) Gegenstand der Handelsbetriebslehre. Je nachdem, ob Aussagen über Handelsbetriebe empirisch beobachtbare Phänomene wiedergeben oder ob sie versuchen, Hinweise zur Gestaltung des Entscheidungsprozesses in Handelsbetrieben zu geben, kann (nach Müller-Hagedorn) in registrierende und entscheidungstheoretische Handelsbetriebslehre unterschieden werden.

Im Zentrum stehen die Entscheidungsprobleme von Handelsunternehmen (B. Tietz), also betriebswirtschaftliche Fragen des Handelsmanagements und des Handelsmarketings. Traditionell werden aber auch die gesamtwirtschaftlichen Leistungen des Binnen- und Außenhandels, die Bedeutung dieser Betriebe für die Volkswirtschaft sowie ihre struktur-, konjunktur- und wettbewerbspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten (Außenhandels- und Binnenhandelspolitik) von der Handelsbetriebslehre mit erfasst, die Binnenhandelspolitik namentlich wegen zu geringer Berücksichtigung des Binnenhandels im Rahmen der Volkswirtschaftspolitik.

Die in der Betriebswirtschaftslehre unterschiedenen Produktionsfaktoren menschliche Arbeit, Werkstoffe und Betriebsmittel gelten für Produktionsunternehmen. In Handelsunternehmen tritt der Elementarfaktor Ware an die Stelle der Werkstoffe. Häufig wird auch Wissen (Organisation) als zusätzlicher produktiver Faktor des Handels verstanden. Wegen seiner besonderen Bedeutung für sämtliche Entscheidungsprozesse im Handelsbetrieb kann auch der Faktor Zeit als Quasi-Produktionsfaktor oder sekundärer Leistungsfaktor betrachtet werden.

Die Kernaufgaben bzw. -leistungen des Handels, und zwar sowohl des einzelnen Handelsunternehmens als auch des Handels insgesamt, werden in Anlehnung an Karl Oberparleiter und Rudolf Seyffert durch die so genannten Funktionen des Handels oder Handelsfunktionen erfasst (funktionaler Handelsbegriff):

  • die Überbrückungsfunktionen (Raumüberbrückung, Zeitausgleich, Preisausgleich und Kreditfunktion)
  • die Warenfunktionen (Verfügbarkeit eines Sortiments in entsprechender Quantität, Qualität, Sortimentsbreite und -Tiefe)
  • die Informationsfunktionen (Markterschließung und Beratung)
  • die kulturelle Funktion

Das in der modernen Handelsbetriebslehre kompilierte Kaufmannswissen hat eine bis in die Antike zurück reichende Tradition. Seit der Erfindung des Buchdrucks wurde das jahrhundertelang mündlich und handschriftlich von Kaufmannsfamilien tradierte Wissen einer weiten Öffentlichkeit zugänglich und somit auch als Lehrstoff für kaufmännische Bildungsstätten nutzbar. Berühmt wurde die erste gedruckte Darstellung des Systems der doppelten Buchhaltung in Luca Paciolis Buch „De Aritmetica“ (1495). Mit der ersten systematischen Sammlung des kaufmännischen Wissens seiner Zeit, Le parfait négociant ... von Jacques Savary im Jahre 1675 - ein Jahrhundert vor dem berühmtesten Werk der klassischen Nationalökonomie von Adam Smith! - beginnt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Handel, die „Handlungswissenschaft“. Mit Errichtung eines handelswissenschaftlichen Lehrstuhls an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (für Johann Friedrich Schär) im Jahre 1914 wurde die Handelsbetriebslehre als erstes betriebswirtschaftliches Fach an einer deutschsprachigen wissenschaftlichen Hochschule etabliert[1]. In Deutschland erfuhr die Handelsbetriebslehre ein breites Fundament vor allem durch die literarischen und empirischen Arbeiten von Rudolf Seyffert und Julius Hirsch, die beide im Jahre 1926 in Köln und Berlin je ein spezielles Forschungsinstitut für den Handel gründeten. Von ihnen gingen zahlreiche betriebswirtschaftliche und binnenhandelspolitische Anregungen aus (z.B. Betriebsvergleich, Betriebsberatung, Auf- und Ausbau des Handelsmarketings; gutachterliche Tätigkeit für Kammern, Behörden und Verbände). Die in den 30er Jahren entstehende, durch Wilhelm Vershofen, Georg Bergler und Ludwig Erhard geprägte „Nürnberger Schule“ der Absatzwirtschaft, insbesondere die grundlegenden Arbeiten von Erich Schäfer sowie nach dem II. Weltkrieg die Arbeiten von Erich Gutenberg zur Absatzlehre, spielte für die Handelsbetriebslehre eine ambivalente Rolle. Einerseits trug ihre „durchgängige Betrachtungsweise“ aller Wirtschaftsprozesse und -institutionen von der Urproduktion bis zur Endverwendung der Waren zum Verständnis der Handelsbetriebe und ihrer Bedeutung für die Gesamtwirtschaft bei. Andererseits wurde der Handel durch das Vordringen der industrieorientierten Absatz- und Marketinglehre „in den hinteren Winkel des Forschungsinteresses gedrängt“.[2]

Die wissenschaftliche Handelsbetriebslehre wird unter verschiedenen Bezeichnungen (Handelsmanagement, Handelsbetriebsführung oder Handelsmarketing) als selbstständiger Studiengang oder als Fach im Rahmen des Marketingstudiums (z.B. als Marketing und Distribution) an mehreren Universitäten und Fachhochschulen angeboten. Einige Hochschulen bieten auch Handelspsychologie als Zweiglehre der Handelsbetriebslehre an. Für die an Fachhochschulen gepflegte Verknüpfung von wissenschaftlicher mit berufspraktischer Ausbildung im Rahmen des dualen Studiums sei stellvertretend das Ausbildungsfach Handelsmanagement an der Europäischen Fachhochschule Brühl erwähnt. Für die obligatorischen wissenschaftlichen Studienabschluss- oder Examensarbeiten (Diplomarbeit, Bachelorarbeit, Masterarbeit) können sowohl theoretisch als auch empirisch ausgerichtete Arbeiten, d.h. sowohl theoretisch-literarische Themen als auch Themen mit praktischem Handelsbezug, vergeben werden.

Traditionell wird an den Lehrstühlen für Handelsbetriebslehre (oder Handel und Absatz oder Marketing und Handel) auch Handelsforschung[3] betrieben. Von Lehraufgaben losgelöste Handelsforschung wird auch in einigen speziellen Forschungsinstitutionen durchgeführt. Nach einer im Juni 2002 abgeschlossenen Untersuchung über die Lehr- und Forschungsstätten im Handel wurde das Fach Handelsbetriebslehre in Deutschland an 25 wiss. Hochschulen und an 22 Fachhochschulen angeboten; 5 Institute widmeten sich ausschließlich oder schwerpunktmäßig der Handelsforschung[4]. Aus seiner 30-jährigen Lehrerfahrung berichtet Schenk u.a. über die Gestaltungsmöglichkeiten des handelsbetrieblichen Hochschulunterrichts, über die Konzipierung von handelswissenschaftlichen Seminaren und über objektivierte Examensbeurteilungen anhand von standardisierten Prüflisten[5]. Der Förderung wissenschaftlicher und praxisnaher Projekte, die sich mit Innovationen im Handel beschäftigen, sind der Wissenschaftspreis des EHI Retail Institute, Köln, und der Förderpreis Handel der Wolfgang Wirichs-Stiftung, Krefeld, gewidmet.

Im Rahmen der dualen kaufmännischen Ausbildung wird die stärker praxisorientierte angewandte Handelsbetriebslehre vor allem an Berufsschulen gelehrt, ferner an Fachschulen des Handels und an Berufsakademien. Die Industrie- und Handelskammern nehmen die berufsschulischen Abschlüsse für angehende Einzelhandelskaufleute und Kaufleute im Groß- und Außenhandel ab und bieten weiterbildende Kurse, etwa zum Handelsfachwirt, und Lehrgänge an.

Belege

  1. Näheres zu den Entwicklungsstufen der Handelsbetriebslehre bei Rudolf Seyffert: Betriebswirtschaftslehre, Geschichte der, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., Band I, Stuttgart 1956, Sp. 995-1011, und Hans-Otto Schenk: Marktwirtschaftslehre des Handels, Wiesbaden 1991
  2. Hans-Otto Schenk: Handelsforschung gestern und heute. In: Handelsforschung heute, Berlin 1979, S. 25-45, hier S. 35, ISBN 3-428-04408-8
  3. Hans-Otto Schenk: Handelsforschung, in: Das große Lexikon für Handel und Absatz, hrsg. von B. Falk, 2. Aufl., Landsberg 1982, S. 311-314
  4. Rolf Spannagel: Lehre und Forschung zu Handelsfragen an deutschen Hochschulen - Eine Bestandsaufnahme, in: Handelsforschung 2003, hrsg. von Volker Trommsdorff, Köln 2003, S. 423
  5. Hans-Otto Schenk: Handelsbetriebslehre im Hochschulunterricht. Privatissime et gratis: Subjektive Anleitungen zum Glücklichsein, in: Handelsforschung 2003, hrsg. von Volker Trommsdorff, Köln 2003, S. 443-461

Literatur

  • Susanne Burren: Die Wissenskultur der Betriebswirtschaftslehre. Aufstieg und Dilemma einer hybriden Disziplin. Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1330-8
  • Michael Lerchenmüller: Handelsbetriebslehre, 4. Aufl., Ludwigshafen 2003, ISBN 3-470-45144-3
  • Lothar Müller-Hagedorn: Der Handel, Stuttgart 1998, ISBN 3-17-015338-2
  • Lothar Müller-Hagedorn: Handelsmarketing, 4. Aufl., Stuttgart 2005, ISBN 3-17-012350-5
  • Hans-Otto Schenk: Geschichte und Ordnungstheorie der Handelsfunktionen, Berlin 1970, ISBN 3-428-02147-9
  • Hans-Otto Schenk: Psychologie im Handel, 2. Aufl., München/Wien 2007, ISBN 978-3-486-58379-3
  • Rudolf Seyffert: Wirtschaftslehre des Handels, 5. Aufl., hrsg. v. Edmund Sundhoff, Opladen 1972, ISBN 3-531-11087-x
  • Bruno Tietz: Der Handelsbetrieb, 2. Aufl., München 1993, ISBN 3-8006-1637-8

Weblinks


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