Fehmgericht

Fehmgericht

Fehmgericht, 1) (Heilige Vehme, Heimliches Gericht, Judicium secretum), in ältester Zeit so v.w. Criminalgericht; 2) im Mittelalter heimlich gehegtes Gericht. Die Einrichtung des F-s war während dessen größter Blüthe (im 14. u. 15. Jahrh.) folgende: Das F. bestand aus Wissenden (Sciti, Fehmgenossen, Vemenoti), dieselben mußten ehelicher, christlicher Geburt u. ohne Makel sein u. verpflichteten sich durch einen feierlichen Eid, das Geheimniß des Gerichts zu bewahren u. Alles, was ihnen von Verbrechen od. sonst vor das F. Gehörigen bekannt würde, ihm anzuzeigen. Die Aufnahme dieser Wissenden sollte nur auf Rother, o. h. westfälischer Erde (daher Freibann auf rother Erde u. Westfälisches Gericht) geschehen; der Wissende, welcher einen Anderen vorschlug, mußte für dessen Tüchtigkeit bürgen. Bald breiteten sich die Wissenden über ganz Deutschland aus; sie erkannten sich an gewissen Zeichen (der sogenannten Losung), u. alle Wissenden (angeblich über 100,000) im Reich waren für di-Ausführung des Spruches des Gerichts verantwortlich. Aus den Wissenden wurden die Fehmschöppen (Freischoppen, Banselli) gewählt, welche das Gericht bildeten. Sie saßen beim Gericht im Kreise auf Bänken umher (daher ein Gerichtsspannen). Ihnen beigegeben war der Freibote. Der Vorsitzer hieß Freigraf; vor ihm, der erhöht saß, lagen Dolch u. Strick (die Wyd); das Gericht eines Freigrafen hieß Freiding u. det Ort desselben Freistuhl, der Sprengel der Gerichtsbarkeit Freigrafschaft. Mehrere Freigrafen standen unter dem Stuhlherrn, der meistder Landesherr des Gebietes war, in dem sich das F. befand. Oberster Stuhlherr war der Kaiser (der meist bei der Krönung in Aachen aufgenommen wurde), od. wenn dieser nicht Wissender war, der Erzbischof von Köln, als Herzog von Westfalen. Die F-e wurden bes. in Dortmund, doch auch in Arensberg u. an anderen Orten gehalten u. sollten nur in Westfalen gehegt werden. Doch findet man auch Freistühle in Niedersachsen u. an anderen Orten Deutschlands, z.B. in Baden. Die F. waren a) öffentlich, Offene Freigerichte), dei Tage unter freiem Himmel, in Gegenwart des Volkes gehalten für bürgerliche Streitigkeiten, Geld- u. Schuldsachen, Grenzstreitlgk. iten etc., welche vor keinen anderen Richtern hatten Recht finden können. Schwerere Verbrechen eines Nichtwissenden kamen zuweilen mit vor das öffentliche Gericht, u. verantwortete sich der Beklagte nicht gehörig, so wurden sie b) vor die heimliche Acht (Heimliches Gericht) gebracht, mit 7, später 30 Schöppen. Dasselbe bei Nacht in Wäldern, Höhlen, Ruinen u. dergl. gehalten, urtheilte blos über schwere todeswürdige Verbrechen, Ketzerei, Zauberei, Raub, Mord, Nothzucht etc. (Fehmwrogen), die Richter waren in schwarze Mäntel tief u. unkenntlich vermummt Der Verbrecher wurde stets geladen; der Nichtwissende binnen 6 Wochen 3 Tagen, der Wissende binnen dreifacher Frist. Die Ladung erfolgte durch Anheftung einer Schrift an seine Thür od. in der Nähe derselben, gn welche der Wissende, der sie überbrachte, drei stgrke Schläge that, worauf er drei Spáne, zum Zeichen, daß er da gewesen sei, abhieb. Der Geladene fand in bestimmten Nächten auf bestimmten Kreuzwegen Wissende, die ihn zum Gericht geleite ten. Er konnte sich selbst vertheidigen od. sich durch Eid reinigen, welchen aber der Ankläger durch einen Eid mit Eideshelfern widerlegen konnte; wider diesen vertheidigte sich der Angeklagte mit 6 Eideshelfern (übersiebente den Ankläger), u. wenn auch diese Vertheidigung durch den Eid von 14 Personen überwogen wurde, mit 21 Eideshelfern. Dies war der höchste Beweis u. hatte die unmittelbare Freisprechung zur Folge. Erschien der Angeklagte nicht od. wurde er überwiesen, so verurtheilte ihn (verfehmte, hielt Vollgericht über ihn) das Gericht; er war dann allen Wissenden Preis gegeben, u. es war diesen Pflicht, an ihm, wo sie ihn fanden, die Execution zu vollstrecken, ihn an einen Baum, nicht an einen Galgen, aufzuknüpfen,[161] od. ihn, setzte er sich zur Wehre, sonst zu ermorden u. das Mordinstrument, meist einen eigens bezeichneten Dolch, zum Leichnam zu legen, um dadurch anzudeuten, daß das F. jene Tödtung bewirkt habe. 3 od. 4 Schöffen konnten, wenn sie einen Verbrecher über der That ertappten (handhafte That), ihn sogleich selbst, ohne Urtheil u. Recht, richten. Wer von den Wissenden dem Verurtheilten einen Wink seiner Verurtheilung gab, wurde mit dem Tode bestraft. In der letzten Zeit des F-s konnte der Verurtheilte auf mehrere Art dem ihm zugedachten Urtheil entgehen; so suchte er bei dem Stuhlherrn um Gehör nach od. er appellirte an den Kaiser, welcher Geleit gegen das F. gab, od. das Urtheil auf 100 Jahre 6 Wochen 1 Tag aufschob etc. Geistliche, reichsunmittelbare Personen, welche die vollkommene Landeshoheit besaßen, u. nach Einigen auch Juden u. Weiber konnten nicht vor dem F. verklagt werden; auch war nur dann vor ihm zu klagen erlaubt, wenn vor einem ordentlichen Gericht kein Recht zu erlangen stand.

Der Ursprung des F. ist dunkel; Einige u. das F. selbst haben ihn bis auf Karl den Großen zurückführen wollen u. als ersten Zweck gesetzt, die Rückkehr der Sachsen zum Heidenthum zu verhindern; gllein die Geschichte findet hiervon keine Spur. Wahrscheinlicher ist, daß es beim Sturze Heinrichs des Löwen (1182) entstand, wo ein Theil von dessen Ländern, Engern u. Westfalen, an Köln kam: der Erzbischof fand die Rechtspflege dort wie in ganz Deutschland in traurigem Zustand u. suchte dieselbe durch das F. zu heben. Mit diesen Umständen stimmt die Sage überein, daß Engelbert, Erzbischof von Köln (1216–25), der erste Freigraf gewesen sei. Später bedienten sich die Kaiser, welche die F. unter ihren Schutz nahmen, derselben, um mächtige Große zu schrecken. Im 14. u. 15. Jahrh. war die Macht des F-s aufs Höchste gestiegen, u. bei der Unordnung in der Verwaltung der Justiz hatte es damals wohl oft wohlthätige Wirkungen: es artete jedoch bald aus u. gab zu großen Mißbräuchen Anlaß. Einzelne Städte, Fürsten u. auch Eidgenossen errichteten um 1460 Vereine, nach denen das F. in dem Gebiet der Verbundenen keine Macht haben, sondern der ihre Sprüche executirende Wissende als Mörder gestraft werden sollte. Eine etwas verbesserte Einrichtung erhielten die F-e durch die Reformation, welche Erzbischof Dietrich in Köln 1437 in einem Capitel in Arensberg aufsetzen ließ u. welche die kaiserliche Bestätigung echi. lt. Die F-e widersetzten sich indessen oft dem Kaiser, bes. wenn derselbe nicht Wissender war. Einmal luden sie sogar Kaiser Friedrich III. (st. 1493) vor ihren Stuhl, weil er sie beschränkende weitere Reformen vornehmen wollte. Eine ausdrückliche Aufhebung des F-s fand nie statt; der Umfang ihres Wirkungskreises wurde nach u. nach durch deren Verwandlung in bloße Landgerichte beschränkt, u. die Einführung des allgemeinen Landfriedens u. der neuen Criminalgesetzgebung verwischte endlich die letzten Spuren ihres eigenthnümlichen Verfahrens. 1568 wurde das letzte bekannte F. bei Zelle gehalten. Doch währte eine Art F., in mildere u. gesetzlichere Formen gebracht, bis zum Jahr 1792 unter dem Schutze des Kaisers fort. Es war eine Art Dinggericht geworden, hatte einen Oberfreigraf in Arensberg, der mehrere Freigrafen, welche namentlich die Fürsten von Lippe u. Grafen von Waldeck, der Graf von Westfalen u. der Freiherr von Hörda präsentirten, unter sich hatte. Der letzte Oberfreigraf war der pensionirte Hofgerichtsassessor Engelhardt, der in Wörl 1835, 80 Jahre alt, starb u. der dieses Amt von seinem Schwiegervater, Hofrath Lootskopf in Wörl, in dessen Familie diese Stelle über 100 Jahre lang war, erhielt. Auch in Italien soll es ähnliche Gerichte gegeben haben. Vgl. Freher, De secretis judiciis olim in Westphalia usitatis, Regensb. 1762; Hütten, Das F. des Mittelalters, Lpz. 1793: K. P. Kopp, Über die Verfassung der heimlichen Gerichte in Westfalen, Gött. 1794; Th. Berck, Geschichte der westfälischen F., Bremen 1814, 2 Bde.; P. Wigand, Das F., Hanau 1825; Usener, Die Frei- u. heimlichen Gerichte Westfalens, Frkf. 1832; Gaupp, Von Fehmgerichten mit besonderer Rücksicht auf Schlesien, Bresl. 1857.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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