Katastrophensoziologie

Katastrophensoziologie

Die Katastrophensoziologie beschäftigt sich mit der sozialen Dimension von Katastrophen und gehört theoretisch zur Allgemeinen Soziologie, wenngleich sie auch häufig als Spezielle Soziologie eingestuft wird.

Inhaltsverzeichnis

Aufgaben

Im Einzelnen beschäftigt sich die Katastrophensoziologie mit den soziostrukturellen Voraussetzungen von Katastrophen und den sozialen Prozessen während und nach ihrem Eintritt. Zu letzteren gehören das soziale Handeln der Opfer, Besonderheiten und Aufgabenerfüllung der Organisationen des Katastrophenschutzes sowie der Katastrophen anbahnende und durch Katastrophen ausgelöste gesamtgesellschaftliche oder segmentäre soziale Wandel. Sie umfasst damit auch die schlagend eingetretenen Fälle aus der zumeist im Bereich der Techniksoziologie arbeitenden „Risikosoziologie“.

Die Katastrophensoziologie in Deutschland beschäftigte sich zunächst mit direkten Fragen des Zivilschutzes, also aus der Innenpolitik. Angesichts dessen, dass 16 deutsche Bundesländer im Rahmen ihrer Katastrophenschutz-Gesetzgebung 16 verschiedene Legaldefinitionen von „Katastrophe“ haben, wurden früh (ab 1971) an der späteren Katastrophenforschungsstelle des Institutes für Soziologie der Universität Kiel theoretische Anstrengungen unternommen, den umgangssprachlichen Begriff „Katastrophe“ soziologisch-begrifflich zu schärfen.[1]

Doch liegt die „Katastrophensoziologie“ (ähnlich wie z. B. die „Agrarsoziologie“) immer noch fernab vom deutschen soziologischen Mainstream.

Begriffe

Verschiedene soziologische Ansätze versuchen „Katastrophe“ begrifflich zu fassen. Sie meinen nur teilweise dieselben Geschehnisse.

In der (in ihren Ursprüngen - beginnend mit Enrico Quarantelli (vgl. Emergentes Organisations-Netzwerk) - sehr pragmatisch orientierten) US-amerikanischen Sociology of Disaster wird überhaupt erst neuerdings catastrophe von disaster abgetrennt, vor allem als überörtliche soziale Vernetzung von lokalen Schadereignissen.[2]

Die organisationssoziologische Vertiefung von Charles Perrow betont die Normalität des Auftretens auch von katastrophalen Unfällen.

In Deutschland wird „Katastrophe“ mit Kategorien der allgemeinen Soziologie wie folgt definiert:

In der Systemtheorie (in der Nachfolge von Niklas Luhmann) figuriert sie als reines Produkt von Kommunikationen und bezeichnet etwas, was zugleich unausweichlich und nicht gewollt ist, eine besondere Form von „Gefahr“.[3]

Überwiegend jedoch wird „Katastrophe“ seit 1978[4] figurations- und tauschtheoretisch (nach Lars Clausen u. a.) prozessual, nämlich als ein extrem beschleunigter, extrem vernetzter und extrem dämonisierter sozialer Wandel aufgefasst[5], der in jeder empirisch auffindbaren Gesellschaftsformation auftreten könne.[6] Exemplarische Schlüsselkonzepte bzw. -modelle dieses dritten Ansatzes sind etwa der Experten-Laien-Konflikt, das Stadienmodell FAKKEL[7], das Phasenmodell LIDPAR[8], der Noah-Effekt oder die Sündenbocksuche.

Für Ulrich Beck sind Katastrophen zivilisatorische „Nebenwirkungen“ bzw. ungeplante Folgen der industriegesellschaftlichen Reichtumsproduktion. Ohne eine nähere Analyse des Katastrophen-Begriffs bezeichnet Beck die gegenwärtige Risikogesellschaft als „eine Katastrophengesellschaft. In ihr droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden.“[9] Aktuelle Risiken und potentielle Katastrophen bestärkten autoritäre Maßnahmen bis hin zu einem „Totalitarismus der Gefahrenabwehr“, der die Demokratie bedrohe (Stichworte: Atomstaat, Überwachungsstaat, Gorleben).

Ergebnisse

Die theoretischen[10] und praktischen[11] Ergebnisse der Katastrophensoziologie sind in der Mainstream-Soziologie wenig, deutlich aber in der deutschen fachübergreifenden katastrophenbezogenen Forschung in Medizin, Natur- und Ingenieurwissenschaften und Psychologie und darauf fußend in der Praxis des Katastrophenschutzes rezipiert worden. Dies kann zumeist durch die Mitwirkung von Katastrophensoziologen in der Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern erklärt werden.[12]

Man muss diese fachliche Schieflage nicht auf die Unerheblichkeit der theoretischen Befunde beziehen - keine US-amerikanische oder deutsche Universität fördert hier Grundlagenforschung, und problembezogene drittmittelfinanzierte Untersuchungen bestimmen den Forschungsalltag einschneidend und verbringen die Ergebnisse in umfangreiche Forschungsberichte, die nur in von der Soziologie nicht rezipierten interdisziplinären Heftreihen öffentlich zur Verfügung stehen.

Literatur

  • Lars Clausen, Offene Fragen der Seuchensoziologie, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Aspekte sozialer Konstitution von Medizin“, Jg. 10, 1985, Heft 3/4, S. 241–249
  • Lars Clausen, Krasser sozialer Wandel, Leske + Budrich, Opladen 1994
  • Lars Clausen, Schwachstellenanalyse aus Anlass der Havarie der PALLAS, Bundesverwaltungsamt - Zentralstelle für Zivilschutz, Bonn 2003
  • Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky, Einführung in die Soziologie der Katastrophen, Bundesamt für Zivilschutz, Bonn 1983
  • Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky, Warnpraxis und Warnlogik, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 13, 1984, S. 293–307
  • Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky/Reinhard L. F. Strangmeier, Deutsche Regelsyssteme. Vernetzungen und Integrationsansätze bei der Erstellung des öffentlichen Gutes Zivil- und Katastrophenschutz in Europa, „Zivilschutzforschung. Neue Folge“, Bd. 18, Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, Bundesamt für Zivilschutz, Bonn 1996
  • Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo (Hgg.), Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen (mit allgemeinsoziologischen Theorieansätzen [Clausen, Japp, Quarantelli, Stallings], Forschungsergebnissen, umfangreicher internationaler Bibliographie und einem „Katastrophensoziologischen Glossar“), LIT-Verlag, Münster 2003, ISBN 3-8258-6832-X
  • Wolf R. Dombrowsky, Katastrophe und Katastrophenschutz, Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 1989
  • Wolf R. Dombrowsky, Zum Teufel mit dem Bindestrich. Zur Begründung der Katastrophen(-)Soziologie in Deutschland durch Lars Clausen, in: Ders./Ursula Pasero (Hgg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1995, S. 108-122
  • Wolf R Dombrowsky, Not Every Move Is A Step Forward, in: Ronald Perry/Enrico L. Quarantelli (Hgg.): What Is A Disaster? New Answers To Old Questions, Xlibris Corporation, Philadelphia 2005, S. 79-96, Online einsehbar: What Is a Disaster? bei scribd.com
  • Wolf R. Dombrowsky, Mentale und psychologische Effekte, in: 20 Jahre nach Tschernobyl. Eine Bilanz aus Sicht des Strahlenschutzes, „Berichte der Strahlenschutzkommission (SSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit“, Heft 50, H. Hoffmann GmbH Fachverlag, Berlin 2006, S. 159–204
  • Wolf R. Dombrowsky, Critical Theory in Sociological Disaster Research, in: R. R. Dynes/B. de Marchi/C. Pelanda (Hgg.), Sociology of Disasters. Contribution of Sociology to Disaster Research, Franco Angeli, Mailand 1987, S. 331-356
  • Wolf R. Dombrowsky/John K. Schorr, Angst and the Masses. Collective Behavior Research in Germany, in: Mass Emergencies and Disasters, Jg. 4, 1986, H. 2, S. 61–89
  • Wolf R. Dombrowsky/Willi Streitz/Jörg Horenzcuk, Erstellung eines Schutzdatenatlasses, „Zivilschutzforschung. Neue Folge“, Bd. 51, Schriftenreihe der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, Bundesverwaltungsamt, Bonn 2003
  • Elke M. Geenen, Soziologie der Prognose von Erdbeben, Duncker & Humblot, Berlin 1995
  • Elke M. Geenen, Katastrophenvorsorge – Katastrophenmanagement, in: Carsten Felgentreff/Thomas Glade (Hgg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Akademischer Verlag, Heidelberg 2008, S. 225–239
  • Elke M. Geenen, Warnung der Bevölkerung, in: „Schriften der Schutzkommission“, Bd. 1, Gefahren und Warnung, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2009, S. 59–102
  • Wieland Jäger, Katastrophe und Gesellschaft, Reihe „Soziologische Texte“, Luchterhand, Neuwied 1977
  • Charles Perrow, Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Campus, Frankfurt am Main 1987
  • Ronald Perry/Enrico L. Quarantelli (Hgg.), What Is A Disaster? New Answers To Old Questions, Xlibris Corporation, Philadelphia 2005
  • Martin Voss, Symbolische Formen. Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe, Transcript, Bielefeld 2006. (insbesondere die Einleitung)

Weblinks

Anmerkungen

  1. Wieland Jäger, Katastrophe und Gesellschaft, Neuwied 1977; Lars Clausen, Tausch. Entwürfe zu einer soziologischen Theorie, München 1978
  2. Vgl. Enrico L. Quarantelli, Auf Desaster bezogenes soziales Verhalten, in: Lars Clausen / Elke M. Geenen / Elísio Macamo (Hgg.), Entsetzliche soziale Prozesse, Münster 2003, S. 25.
  3. Vgl. Klaus P. Japp, Zur Soziologie der Katastrophe, in: Clausen/Geenen/Macamo a. a. O., S. 77–90.
  4. Vgl. Clausen 1978 a. a. O., Schlusskapitel.
  5. Dimensionen der „Rapidität“, „Radikalität“ und „Ritualität
  6. Vgl. Elke M. Geenen, FAKKEL, in Wolf R. Dombrowsky/Ursula Pasero (Hgg.), Wissenschaft - Literatur - Katastrophe, Opladen 1995, S. 176-186; Clausen u.a. a.a.O. 2003, insbes. S. 60–63, 343–347).
  7. Eintritt, Fortgang und Ende einer Katastrophe ist hier das vierte von sechs, teils sehr langfristigen Stadien.
  8. Sechs Phasen einer Katastrophe können unterschieden werden.
  9. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 105
  10. Vgl. dazu das Literaturverzeichnis.
  11. Vgl.dazu etwa: Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, Dritter Gefahrenbericht, Bonn: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe 2006.
  12. Vgl. das Literaturverzeichnis.

Siehe auch


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