Levantiner

Levantiner

Der Ausdruck Levantiner bezeichnet die Bewohner der so genannten Levante, also der Länder des Mittelmeerraumes östlich von Italien, insbesondere des Küstenstreifens zwischen der südlichen Türkei und dem Sinai. Im engeren Sinne bezeichnete man die nicht-muslimischen Minderheiten bis zum 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich, insbesondere in Konstantinopel, als Levantiner. Dabei handelte es sich einerseits um Nachfahren europäischer Kaufleute, insbesondere aus Genua und Venedig, die zum Teil bereits in byzantinischer Zeit in den östlichen Mittelmeerraum gezogen waren. Andererseits waren es auch Angehörige der autochthonen christlichen, in Konstantinopel und Kleinasien zur griechischen und armenischen, in den arabischen Küstenstädten zur arabisch-christlichen und jüdischen Bevölkerung gehörenden Gruppen. Gemeinsam ist dieser sehr heterogenen Gruppe ein soziokulturelles urbanes Milieu, das traditionell durch die französische Sprache und zum Teil durch die Zugehörigkeit zur katholischen oder einer mit dieser unierten Kirche geprägt war (z. B. auch griechisch-katholische und armenisch-katholische Kirche). Die Nachkommen der Europäer lebten in Konstantinopel vor allem nördlich des Goldenen Horns in Pera, während Griechen und Armenier die Altstadt bewohnten, dort vor allem die Viertel um die Amtssitze ihrer Patriarchen. Die alteingesessenen griechischen Familien nannte man deswegen nach dem Phanar, dem Amtssitz des ökumenischen Patriarchen, Phanarioten. Eine wichtige Rolle spielten in Konstantinopel auch vor allem sephardische, aber auch aschkenasische Juden.

Zur Begriffsdefinition der Levantiner siehe auch die Arbeit von Schmitt (2005) (siehe Literaturverzeichnis).

Inhaltsverzeichnis

Bedeutung in der spätbyzantinischen und osmanischen Ära (13. bis frühes 20. Jahrhundert)

Ähnliche Volksgruppen gab es in allen wichtigen Hafenstädten des osmanisch beherrschten Mittelmeerraumes, z. B. in Saloniki (wo vor allem die jüdische Bevölkerung eine wichtige kulturelle Rolle spielte), in den kleinasiatischen Küstenstädten wie Smyrna und den arabischen Mittelmeerhäfen Latakia, Tarsus, Beirut, Haifa, Jaffa, Alexandria. In allen diesen Städten wie auch in den bedeutenden Handelsstädten des arabischen Hinterlandes wie Damaskus, Bagdad, und Kairo, spielten (teilweise autochthone, von der antiken syro-phönizischen Bevölkerung der Region abstammende und arabisch sprechende) nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen eine beherrschende kulturelle und ökonomische Rolle. Im Zuge der Europäisierung des 19. Jahrhunderts vermischten sich diese nichtmuslimischen Gruppen zum Teil untereinander, weswegen man in Europa als Levantiner auch Menschen gemischter europäisch-orientalischer Abstammung bezeichnet. Levantiner waren die wesentlichen Träger der kulturellen Moderne im Nahen Osten, gleichzeitig legten sie paradoxerweise die Grundlagen für die modernen säkularen Nationalismen. Die moderne türkische Sprache wurde von Nichtmuslimen wie Ziya Gökalp und Munis Tekinalp propagiert, die moderne arabische Sprache wurde analog zu Luther durch die Bibelübersetzung eines arabischen Protestanten, Butros Bustani, definiert.

Niedergang im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert ist die levantinische Kultur in den Hafenstädten des östlichen Mittelmeeres weitgehend verschwunden. Eine wesentliche Rolle dabei spielten die europäischen Großmächte, die seit dem 19. Jahrhundert den Untergang des Osmanischen Reiches betrieben. Sie förderten gewissermaßen den ethnischen Nationalismus zunächst in Europa (Griechenland, Jugoslawien, Bulgarien), später auch im Orient (Kemalismus, zum Beispiel auch in der Türkei, und den arabischer Nationalismus und Zionismus). Im Schatten des Ersten Weltkrieges wurde die armenische Bevölkerung Kleinasiens planvoll, zielstrebig und weitgehend vernichtet, und zwar nicht von den Feinden der Türkei, sondern von den Türken selbst. Im Libanon starben etwa 20 Prozent der christlichen Bevölkerung an Hunger und Seuchen. Die deutschen Verbündeten der verantwortlichen säkularen Jungtürken, überwiegend preußische Protestanten, sahen dabei tatenlos zu. Wie die ebenfalls protestantischen Engländer bevorzugten sie die muslimische Landbevölkerung, da sie in dieser ein größeres Potential für eigene koloniale Ambitionen sahen als in den „widerspenstigen“ und „unkontrollierbaren“ zum großen Teil frankophonen und katholischen Levantinern.

Paradoxerweise wurde in der Türkei und den modernen arabischen Staaten der levantinischen Kultur nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, dessen Millet-System nichtmuslimischen Minderheiten Überlebensnischen bot, von säkularen Regimes endgültig der Untergang bereitet, allerdings weniger aus konfessionellen Gründen: beispielsweise kam es in Ägypten zu Enteignungen christlicher Familien im großen Maßstab in den fünfziger Jahren durch Gamal Abdel Nasser um die Bürokratie der Monarchie, die von Kopten dominiert war, zu reformieren, in Istanbul wurde ein Großteil der griechischen Bevölkerung zur selben Zeit von der kemalistischen, pro-amerikanischen Regierung gewaltsam vertrieben (hier aus nationalistischer, nicht religiöser Motivation). Am längsten konnte sich die levantinische Kultur im Libanon halten, in dessen konfessionell strukturierter Verfassung das osmanische Millet-System fortlebt. Aber auch dort wandert die christliche Bevölkerung seit dem Bürgerkrieg nach und nach aus. Man schätzt, dass beispielsweise die maronitische christliche Kirche, die im Libanon heute weniger als eine Million Menschen zählt, weltweit über sechs Millionen Mitglieder hat. Im heutigen Israel haben einerseits viele jüdische Levantiner aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum eine neue Heimat gefunden, gleichzeitig war eine Folge der Gründung dieses Staates das fast totale Verschwinden jüdischer Kultur in den arabischen Mittelmeerhäfen in Folge des Nahostkonflikts. In Saloniki wurde beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges Opfer der Verfolgung und Ermordung durch die deutschen Nationalsozialisten (Shoah). Gleichzeitig hatten viele der 1948 und 1967 vertriebenen Palästinenser einen levantinischen Hintergrund, einige der wichtigsten PLO-Funktionäre, vor allem von marxistischen Gruppen wie der PFLP (z. B. George Habasch) waren arabische Christen. Andererseits stammte einer der bedeutendsten liberalen Köpfe der palästinensischen Bewegung, der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Prof. Edward Said, ebenfalls aus einem christlichen Milieu. Sein Buch „Orientalism“ ist ein wichtiger theoretischer Beitrag zum Verständnis der Entwicklungen im levantinischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert.

Levantiner heute

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Levantiner vor allem nach Nordamerika, Frankreich, Lateinamerika, Australien, und Südafrika ausgewandert. Syrer und Libanesen sind auch in das frankophone Westafrika ausgewandert, wo sie heute in manchen Staaten das Wirtschaftsleben weitgehend beherrschen.

In Frankreich und den USA spielen levantinische Einwanderer eine bedeutende Rolle im Wirtschafts- und kulturellen Leben, aber auch in der Politik (Frankreich: Robert Solé, Édouard Balladur, Jacques Chirac Charles Aznavour, Sylvie Vartan, Gabriel Yacoub, Gabriel Yared (Filmkomponist, Oscar für den Soundtrack von The English Patient); USA: Cher, Frank Zappa, Kirk Kerkorian, Paul Anka, George Joulwan (General, ehem. NATO-Oberbefehlshaber Europa)). Die Familie der Mutter des derzeitigen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, die Mallah, spielten im levantinischen Milieu des osmanischen Saloniki eine Rolle. In Lateinamerika gibt es zahlreiche Politiker und Wirtschaftsführer levantinischer Herkunft, unter anderem den ehemaligen argentinischen Präsidenten Carlos Menem, sowie den derzeit reichsten Mann der Welt, den mexikanischen Telekom-Unternehmer Carlos Slim Helú. Berühmte Pop-Stars mit Latino-Image wie Shakira und Salma Hayek sind Nachkommen levantinischer Einwanderer. Auch in Großbritannien gibt es bedeutende Persönlichkeiten levantinischer Herkunft, zum Beispiel den aus Alexandria stammenden Historiker Eric Hobsbawm.

Nachkommen von Levantinern sind durch ihre Multikulturalität und Anpassungsfähigkeit weltweit erfolgreich in der globalisierten Wirtschaft. Gleichzeitig ist vor allem in den arabischen Ländern die weitgehende Verdrängung dieses Kulturelements eine wesentliche Grundlage für den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang der Region im Laufe des 20. Jahrhunderts, obwohl neben dem Libanon vor allem in Ägypten noch ein levantinisches Erbe lebendig ist, das zum Beispiel durch den mehrfach in Cannes ausgezeichneten Filmregisseur Youssef Chahine oder den ehemaligen UN-Generalsekretär und späteren Präsidenten der Frankophonie Boutros Boutros-Ghali verkörpert wird. In der Türkischen Republik ist dagegen paradoxerweise trotz der physischen Vernichtung nichtmuslimischer Minderheiten gelungen, das levantinische kulturelle Erbe der Multikulturalität und Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem durch die kemalistische Ideologie in den neuen Staat hinüberzuretten.

"Levantiner" als diskriminierender Begriff im deutschen Sprachraum

Der Begriff "Levantiner" ist vor allem im deutschsprachigen Raum negativ behaftet. „Levantinisch“ wird mit allerlei negativen Konnotationen wie mafiös, korrupt, feilschend, etc. belegt. Teilweise ähneln die Klischees denen des Antisemitismus und stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich das Deutsche Reich das zusammenbrechende Osmanische Reich als mögliches Kolonialisierungsgebiet erschließen wollte. Während die anatolischen Türken und die religiösen Siedler in Palästina (Protestanten und zionistische Juden) dabei als Verbündete angesehen wurden, die auch dem im deutschen Kaiserreich dominierenden protestantischen Arbeitsethos entsprachen, wurden die überwiegend frankophonen und nach England und Frankreich kulturell orientierten "Levantiner" mit Argwohn betrachtet.

Levantiner in der Literatur

Ein bekannter Schriftsteller, der von Levantinern und ihrer Kultur fasziniert war, war der britische Krimiautor Eric Ambler. Einer seiner bekanntesten Romane trägt den Titel „Der Levantiner“, aber auch in Romanen wie „Die Maske des Dimitrios“ und dem erfolgreich mit Melina Mercouri und Peter Ustinov verfilmten „Topkapi“ spielen Levantiner, das heißt Menschen mit europäisch-orientalischer Herkunft, eine wichtige Rolle.

Das Schicksal eines typischen Levantiners im 20. Jahrhundert beschreibt der Roman „Die Häfen der Levante“ (französisch: Les échelles du Levant, deutsch bei Suhrkamp erschienen, ISBN 3458168702) des französischen, aus dem Libanon stammenden Autors Amin Maalouf. Im Roman verliebt sich ein Libanese armenisch-türkischer Herkunft, den es mehr oder weniger per Zufall während des Zweiten Weltkrieges in die französische Résistance verschlägt, in eine österreichische Jüdin. Im Kontext des beginnenden arabisch-israelischen Konflikts nimmt ihre Beziehung eine tragische Wendung.

Ein wichtiger Chronist von Glanz und Untergang der levantinischen Kultur in Konstantinopel war der Schriftsteller und Journalist Friedrich Schrader, der von 1891 bis 1918 in der Stadt lebte und arbeitete.

Siehe auch

Literatur

  • Schmitt, Oliver Jens, 2005, Levantiner - Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im osmanischen Reich im "langen 19. Jahrhundert": R. Oldenbourg Verlag, München, Reihe: Südosteuropäische Arbeiten, ISBN 3-486-57713-1
  • Bammer, Anton, 2001, "Die Rückkehr des Klassischen in die Levante: neuzeitliche Architektur und Minderheiten", in: Kulturgeschichte der antiken Welt; Band 79, Mainz: Verlag Philipp von Zabern
  • Marie de Testa & Antoine Gautier, Drogmans et diplomates européens auprès de la Porte ottomane, éditions ISIS, Istanbul, 2003, 479 p. (sur l'enseignement des langues orientales en Europe et des biographies individuelles et familiales sur les Adanson, Chabert, Crutta, Deval, Fleurat, Fonton, Fornetti, Jaba, Murat, Roboly, Ruffin, Stoeckl, Testa, Timoni, Wiet).
  • A. Gautier, Un consul de Venise à Smyrne, Luc Cortazzi (ca 1714-1799), Le Bulletin, Association des anciens élèves, Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO), mai 2005, pp. 35–54.
  • A. Gautier, Un diplomate russe à Constantinople, Paul Pisani (1786-1873), Le Bulletin, Association des anciens élèves, Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO), octobre 2004, pp. 11–30.
  • A. Gautier, Anne Duvivier, comtesse de Vergennes (1730-1798), ambassadrice de France à Constantinople, Le Bulletin, Association des anciens élèves, Institut National des Langues et Civilisations Orientales (INALCO), novembre 2005, pp. 43–60.

Weblinks


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