Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen

Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen

Hinter der Bezeichnung Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen (ODESSA, Odessa, O.d.e.SS.A oder O.D.E.S.S.A.) verbirgt sich die Vorstellung, dass es eine gut organisierte, schlagkräftige Dachorganisation gegeben habe, unter der sich ehemalige SS-Angehörige, wie SS-Standartenführer Otto Skorzeny und andere Vertreter oder Sympathisanten des NS-Regimes kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zusammengeschlossen hätten. Unter dem Eindruck des nahenden, unabwendbaren Zusammenbruchs des NS-Staates habe man das Überleben ihrer Angehörigen nach Kriegsende sichern wollen, unter anderem durch Flucht nach Südamerika oder durch gegenseitige konspirative Unterstützung im besiegten Deutschland.

Beweise für eine derartige Dachorganisation gibt es anscheinend nicht, allerdings sind andere Arten der Zusammenarbeit ehemaliger SS-Angehöriger bekannt, unter anderem die Fluchtlinien ins Ausland.

Inhaltsverzeichnis

Bewertung der Glaubwürdigkeit

Die entscheidende Frage, ob es sich dabei lediglich um einen plausibel klingenden Mythos oder eine tatsächlich existierende Organisation gehandelt hat oder sogar heute noch handelt, ist nicht leicht zu beantworten.

In der Dokumentation Mythos Odessa: Wahrheit oder Legende? (2002) des ZDF wurde der bekannte „Nazi-Jäger“ Simon Wiesenthal mit den Worten zitiert: „ODESSA war eine verschwörerische Geheimorganisation der SS, die dazu diente, Kriegsverbrecher aus Deutschland herauszuschleusen und nach Südamerika zu bringen“. Die Dokumentation kommt jedoch zu dem Schluss, es habe keine „weltumspannende Geheimorganisation“ dieser Form gegeben, dafür aber eine Vielzahl kleinerer konspirativer Strukturen, Zusammenschlüsse und Seilschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg NS-Verbrechern Flucht und Untertauchen ermöglicht haben. Zu diesem Ergebnis kommt auch H. Schneppen, der in seine Untersuchung auch erstmals Erkenntnisse aus dem Archiv der DDR-Staatssicherheit einbezieht. Die Stasi hat offenbar ungeprüft die Angaben Wiesenthals übernommen, der seinerseits den Angaben von Informanten zu sehr Glauben geschenkt habe.

Wohl mit Hilfe solcher Verbindungen gelang etwa die Flucht von Josef Mengele nach Brasilien, von Adolf Eichmann und Ludolf-Hermann von Alvensleben nach Argentinien, von Klaus Barbie nach Bolivien und von Alois Brunner nach Syrien.

In der Kritik stehen bis heute zudem amerikanische Geheimdienste wie das CIC, die erwiesenermaßen bereits kurz nach dem Krieg Kenntnis der Fluchtwege (Rattenlinien) hatten, dieses Wissen aber nicht zur Verhaftung der Flüchtigen nutzten. Teilweise übernahmen die ehemaligen SS-Offiziere sogar mit Wissen amerikanischer Behörden Ämter in den Regierungen lateinamerikanischer Staaten. Das prominenteste Beispiel für diesen Zusammenhang ist Klaus Barbie, der die bolivianische Militärregierung beriet – das nötige Wissen hatte er sich in der Zeit als Gestapo-Chef von Lyon angeeignet.

Letztlich scheint es also keine Beweise für die Existenz einer zentralen Dachorganisation unter dem Namen ODESSA zu geben. Das gilt wahrscheinlich umso mehr für die ebenfalls öfter diskutierte Version, wonach ODESSA womöglich nach der Art einer geheimbündlerischen Loge zwar im Verborgenen, aber doch offensiv und planmäßig nach Einfluss gestrebt haben könnte, um ihre Ideologie in Politik und Gesellschaft zu verbreiten.

Die Existenz im Sinne einer Dachorganisation verneint auch der argentinische Journalist Uki Goñi in seinem Buch ODESSA. Die wahre Geschichte.[1] Seine Recherchen ergaben, dass mit dem Wissen der Schweizer Regierung, der Kirche und des argentinischen Diktators Juan Perón, einem offenen Sympathisanten des NS-Regimes, organisierte Fluchtwege über die Schweiz existierten, über die mit Hilfe falscher Pässe NS-Verbrecher aus Deutschland nach Südamerika geschleust wurden, was den Mythos ODESSA begründete.

Unspektakulärer als ODESSA, doch dafür auf reichem Archivmaterial basierend, hat der Historiker Gerald Steinacher in seiner Habilitationsschrift die Zwischenstationen der Rattenlinien bis zur Ausreise in Genua untersucht, wobei das Grenzland Südtirol eine besondere Rolle als NS-Schlupfloch spielte.

Der Begriff ODESSA wurde mehrfach in der populären Literatur verwendet. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte der auch verfilmte Roman Die Akte Odessa des britischen Schriftstellers Frederick Forsyth sein. In der DDR-Fernsehserie Das unsichtbare Visier ist die Organisation mehrfach der Gegenspieler der Hauptfigur.

Siehe auch

Literatur

  • Holger Meding: Flucht vor Nürnberg? Böhlau, Köln 1998 ISBN 3-412-11191-0 (sowie drei nachfolgende Bücher des Autors über Panama & Argentinien) [2]
  • Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher Übers. Theo Bruns und Stefanie Graefe. Assoziation A, Berlin 2006 ISBN 3-935936-40-0
  • Heinz Schneppen: "Odessa" und das Vierte Reich Metropol, Berlin 2007 ISBN 978-3-938690-52-9
  • Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen Fischer, Frankfurt 2010, ISBN 978-3-596-18497-2

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe. ISBN 978-3-935936-40-8 [1].
  2. Der STERN: Populäre Darstellung der Ergebnisse von Meding und Goñi

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS — Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen SS e.V. (HIAG) wurde 1951 als „Traditionsverband“ in Deutschland begründet. Die Gründer und erste Vorsitzenden der HIAG waren unter anderen Otto Kumm, der letzte… …   Deutsch Wikipedia

  • Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS — Traditionsträger „HIAG Ostsachsen“ im Rahmen des Ulrichsbergtreffens am Ulrichsberg 2003 Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen SS e.V. (HIAG) wurde 1951 als „Traditionsverband“ in Deutschland begründet.… …   Deutsch Wikipedia

  • Anspruchs- und Anwartschaftsüberführung aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR — Die Anspruchs und Anwartschaftsüberführung aus Zusatz und Sonderversorgungssystemen der DDR beinhaltet die Art und Weise, wie die in der DDR begründeten Rechte in die gesetzlichen Regelungen zur Altersvorsorge in der Bundesrepublik Deutschland… …   Deutsch Wikipedia

  • Hilfsgemeinschaft auf Gengenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS — Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen SS La Hilfsgemeinschaft auf Gengenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen SS e.V. ou HIAG (en français “Association d’entraide mutuelle des anciens membres des… …   Wikipédia en Français

  • Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS — La Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen SS e.V. ou HIAG (en français “Association d’entraide mutuelle des anciens membres des Waffen SS”) fut fondée en Allemagne au cours de l’année 1951 en tant que… …   Wikipédia en Français

  • Thüringentag der nationalen Jugend — Der Thüringentag der nationalen Jugend ist eine seit 2002 einmal jährlich jeweils um das letzte Maiwochenende in einer anderen Stadt in Thüringen stattfindende Veranstaltung mit Festival Charakter, bei der Redner aus dem Spektrum der… …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Hansestadt Stralsund — Der Artikel Geschichte der Hansestadt Stralsund behandelt die Entwicklung der deutschen Stadt Stralsund. Gegründet als slawische Siedlung im 10. Jahrhundert wurde der Stadt Stralow im Jahr 1234 das Lübische Stadtrecht verliehen. Stralsund kam… …   Deutsch Wikipedia

  • Grenzschutz der DDR — Der Grenzschutz der DDR ist eine unter der Regierung de Maizière im Jahr 1990 aufgebaute polizeiliche Grenzschutzorganisation beim Innenministerium der DDR, die mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in den Bundesgrenzschutz (BGS) …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Afroamerikaner — Der Bürgerrechtler Martin Luther King im Gespräch mit US Präsident Lyndon B. Johnson (1966). Die Geschichte der Afroamerikaner beginnt mit der Ankunft der ersten Sklaven in den europäischen Kolonien, aus denen die Vereinigten Staaten 1776… …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Stadt Stralsund — Der Artikel Geschichte der Hansestadt Stralsund behandelt die Entwicklung der deutschen Stadt Stralsund. Gegründet als slawische Siedlung im 10. Jahrhundert wurde der Stadt Stralow im Jahr 1234 das Lübische Stadtrecht verliehen. Stralsund kam… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”