Synergetik

Synergetik

Die Synergetik ist die Lehre vom Zusammenwirken von Elementen gleich welcher Art, die innerhalb eines komplexen dynamischen Systems miteinander in Wechselwirkung treten (bspw. Moleküle, Zellen oder Menschen). Sie erforscht allgemeingültige Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des Zusammenwirkens, die universell in Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und Soziologie vorkommen, auch Synergie genannt, und liefert eine einheitliche mathematische Beschreibung dieser Phänomene. Die spontane Bildung von synergetischen Strukturen wird als Selbstorganisation bezeichnet.

Die Synergetik ist in den 1970er Jahren aus der statistischen Physik der Nichtgleichgewichtssysteme hervorgegangen (Hermann Haken) und behandelte demgemäß zunächst rein physikalische Systeme, deren bekanntestes der Laser ist. An diesem paradigmatischen System der Selbstorganisation fern vom thermodynamischen Gleichgewicht konnten die wesentlichen Prinzipien, wie das Ordnungsparameter-Konzept, Versklavungsprinzip, Phasenübergänge u. a. entwickelt werden.

Das Versklavungsprinzip besagt, dass das Verhalten, also die Dynamik der Systemteile eines komplexen Gesamtsystems durch einige wenige Ordnungsparameter bestimmt wird. Damit findet verglichen zur Komplexität bei der Betrachtung eines Einzelsystems eine erhebliche Informationskomprimierung statt. Denn zur Verhaltensbeschreibung des Gesamtsystems reicht es, abhängig vom Ordnungsparameter-Raum einige wenige Gleichungen aufzustellen, die das Gesamtsystem beschreiben.

Durch die grundlegende Ähnlichkeit aller Systeme, die sich unabhängig von der konkreten Wechselwirkung aus vielen Konstituenten zusammensetzt, konnten die entwickelten Methoden auf viele andere Bereiche ausgeweitet werden. In der Chemie ist das bekannteste Beispiel die Belousov-Zhabotinsky-Reaktion, bei der man räumliche und zeitliche Muster beobachten kann.

Weitere Beispiele sind:

Synergetik wurde durch ihre breite Anwendbarkeit in interdisziplinären Bereichen teilweise auf ein Schlagwort reduziert, das nicht mehr als eine Gemeinschaftswirkung bedeutet, die über die Summe der Leistungen der Einzelnen hinausgeht. Die Synergetik ist jedoch eher eine mathematisch exakt formulierte Theorie als philosophische oder wissenschaftstheoretische Position.

Synergetik nach Haken

Lasertheorie

Die Arbeiten von Albert Einstein zur stimulierten Emission führten zu der Überlegung, dass Lichtverstärkung möglich ist, welche durch gegenseitig angeregte Emission von Photonen bedingt wird. 1960 wurde erstmals Laserlicht in Form eines Rubinlasers erzeugt, seither wurden zahlreiche andere Medien nutzbar gemacht. Hermann Haken entwickelte kurze Zeit später eine Lasertheorie, welche als eine Theorie der komplexen Systeme, im speziellen als eine Theorie der Selbstorganisation aufgefasst wird – also der Entwicklung von Systemzuständen ohne äußeren Zwang (selbstorganisiert), die zudem nicht präzise vorhergesagt werden können (komplex). Ein Ziel der Lasertheorie besteht neben der verständlichen Erklärung der physikalischen Vorgänge insbesondere darin, den zeitlichen Verlauf der Atomzustände berechnen und mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit das Verhalten von Laserlicht-Atomen vorhersagen zu können.

Der entscheidende Phasenübergang (Zustandswechsel) von Licht mit einer Überlagerung von zahlreichen Wellenlängen in Laserlicht ist die Laserschwelle: Wenn jene überschritten wurde, beginnen die Atome des Lasers damit, im Gleichtakt zu schwingen und Licht von nur annähernd einer Wellenlänge auszusenden. Gegenüber Licht mit zahlreichen Wellenlängen, z.B. dem Licht einer Glühlampe, ist Laserlicht in hohem Maße räumlich kohärent.

Einzelne Systemzustände werden meist mittels Differentialgleichungen beschrieben. Durch die Verhältnissetzung der jeweiligen Zustandsgleichung mit ihrer zeitlichen Ableitung kann, bei vollständiger Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes, mit Einsetzen von Variablen jeder mögliche zukünftige Zustand berechnet werden. Bei komplexen Systemen wie dem System von Licht und Medium sind die Gleichungen häufig gekoppelt, d.h. die Wechselwirkungen der Atome werden durch die gegenseitige Abhängigkeit der Variablen in den Gleichungen in mathematische Formeln „übersetzt“. Der annähernde Gleichtakt der Atomschwingungen im Laserlicht ermöglicht hierbei eine erste Vereinfachung der Berechnung, da die Lichtwellen nicht viele verschiedene Wellenlängen, sondern annähernd eine einzige besitzen. Hierdurch werden für die Auflösung der Differentialgleichungen zur Beschreibung der möglichen Systemzustände zu einem bestimmten Zeitpunkt lediglich drei Variablen benötigt:

  • bλ beschreibt die zeitabhängigen Amplituden der möglichen elektromagnetischen Schwingungszustände, auch Moden genannt (λ bezeichnet den Index der Moden, also b1, b2, b3, …)
  • dµ drückt die atomare Inversion aus, also die Differenz der Besetzungszahlen der Energieniveaus, in denen die laseraktiven Atome sich befinden können (µ ist der Index für die einzelnen Atome, also d1, d2, d3…)
  • αµ beschreibt die Dipolmomente der einzelnen Atome.

Mit den Methoden der fundamentalen physikalischen Theorien können die komplexen Differentialgleichungsysteme nicht gelöst werden, weil diese im Gegensatz zur statistischen Physik größtenteils Lösungen für verhältnismäßig einfache Systeme mit wenigen Bestandteilen entwickelt haben. Hakens Ansatz der Lasertheorie, den er später zur Synergetik verallgemeinert hat, ermöglicht die Auflösung von extrem vielen und gekoppelten Differentialgleichungen, die hier vereinfacht dargestellt wird:

Ausgangspunkt der Lasertheorie nach Haken ist die Feststellung, dass verschiedene Prozessgeschwindigkeiten existieren, sich die Variablen also in unterschiedlichen zeitlichen Abständen verändern: bλ ändert sich am langsamsten, etwas langsamer verändert sich dµ, am schnellsten tritt bei αµ eine Änderung auf. Auf Basis dieses Unterschiedes wird eine Hierarchie aufgestellt, in der bλ am höchsten steht. Es wird als sog. Ordnungsparameter aufgefasst, welcher die anderen beiden Variablen „versklavt“, sich also alle anderen Variablen am Ordnungsparameter ausrichten und in ihren Veränderungen von diesem bestimmt werden. Dabei ist es ein grundsätzliches Prinzip der Synergetik nach Haken, dass sich der Zustand und der zeitliche Verlauf eines Systems durch sich langsam ändernde Variablen treffend beschreiben lässt, weil sich schneller ändernde Variablen so aufgefasst werden, dass sie sich an den langsamen „orientieren“. In der Berechnung gilt bλ hierdurch als zeitlich konstant, die „versklavenden“ bλ bestimmen nach Haken den Zustand bzw. den Zahlenwert von dµ und αµ.

Im Vokabular der Synergetik gewinnt ein einzelnes b (z.B. b239) den Wettbewerb unter den Ordnungsparametern und gibt den Takt der Schwingungen vor, wodurch sich die einheitliche Grundmode, die sich mittels Symmetriebrechung im System von Laserlicht und Medium ausbildet, allein durch das taktgebende b berechnet werden kann. Durch diesen sog. Einmodenfall in Kombination mit der Annahme eines herausgehobenen, den Systemzustand bestimmenden Ordnungsparameters vereinfachen sich die Differentialgleichungen derart, dass sie gelöst werden können. Physikalisch betrachtet folgen die Atome in einem Laser also im Sinne der Synergetik nach Haken augenblicklich den Vorgaben des taktgebenden Ordnungsparameters nach der Methode der adiabatischen Näherung.[1]

Kritik an der postulierten Kausalität

Nach Achim Stephan schließt der Synergetik-Ansatz nach Haken ohne weitere Begründung von einer empirisch gut geprüften und mathematisch fundiert formulierten, beschreibenden These auf eine kausaltheoretische These. Zwar lassen sich mit der Auffassung von Ordnungsparamtern und dem Versklavungsprinzip verschiedenste Vorgänge mathematisch zutreffend beschreiben und mit hoher Wahrscheinlichkeit vorausberechnen, jedoch begehe Haken in diesem Fall einen Fehlschluss der Art post hoc, ergo propter hoc (lat. für ‚danach, also deswegen‘): Obwohl das spätere Verhalten des Gesamtsystems im Voraus gut an den Ordnungsparametern abgelesen werden kann, könne man hieraus jedoch nicht automatisch schließen, dass die als repräsentativ anerkannten Parameter auch das Systemverhalten ursächlich festlegen. Insbesondere in sozialen Systemen sei die Anwendung der kausaltheoretischen These problematisch, z.B. „versklave“ das Betriebsklima nicht das Verhalten eines Mitarbeits bzw. das „[…] Betriebsklima tut gar nichts.“[2]

Zudem sei ungeklärt, wie Hakens Rede von zirkulärer Kausalität zwischen einem für das Gesamtsystem repräsentativen Ordnungsparameter und den (übrigen) Systembestandteilen verstanden werden kann: Entweder als kausale Wechselwirkungen innerhalb der Ebene der Systembestandteile oder als kausale Wechselwirkungen zwischen der Ebene der Systembestandteile und der Ebene des Gesamtsystems. Im letzteren Fall würde es sich um eine besondere Variante von Abwärtskausalität handeln, da dasselbe Einzelbestandteil (Ordnungsparameter), auf welches im Sinne der Synergetik nach Haken das Verhalten des Gesamtsystems kausal zurückgeführt wird, zugleich von der Ebene des Gesamtsystems aus wieder auf die Einzelbestandteile kausal einwirken würde.[1]

Literatur

  • Hermann Haken: Synergetik. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1982, ISBN 3-540-11050-X
  • R. Graham, A. Wunderlin (Hrsg.): Lasers and Synergetics. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1987, ISBN 3-540-17940-2
  • Korotayev A., Malkov A., Khaltourina D. Introduction to Social Macrodynamics: Compact Macromodels of the World System Growth. Moscow: URSS, 2006. ISBN 5-484-00414-4 [1]
  • A. S. Mikhailov: Foundations of Synergetics I. Distributed active systems (2nd rev. ed. 1994). Springer Verlag, Berlin, 1990, ISBN 3-540-52775-3.
  • A. S. Mikhailov, A. Yu. Loskutov: Foundations of Synergetics II. Chaos and Noise, 2nd revised and enlarged edition, Springer Series in Synergetics. Springer, Berlin — Heidelberg 1996 (erste Auflage 1991), ISBN 0-387-53448-2.


Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Meinhard Kuhlmann: Theorien komplexer Systeme: Nicht-fundamental und doch unverzichtbar?, veröffentlicht in: Andreas Bartels, Manfred Stöckler (Hrsg.): Wissenschaftstheorie, mentis Verlag, Paderborn 2009, S. 310–314 (a) und S. 324–326 (b)
  2. Achim Stephan: Emergenz: Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Dresden University Press, Dresden und München 1999, S. 237

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