Scholastik

Scholastik

Scholastik, lat. scholastica (scientia d.h. schulmäßige Gelehrsamkeit), die Wissenschaft u. Gelehrsamkeit des Mittelalters, im engern Sinne die Theologie u. Philosophie desselben. Das Eigenthümliche der S. ist ihr christlich-gläubiger Charakter, indem sie das Christenthum als absolute Wahrheit voraussetzte und die Glaubenslehre zum archimedischen Punkt aller Wissenschaft machte. Einfache Folgerungen aus diesem Grundsatze waren, daß die Aufgabe der Wissenschaft u. der Vernunft darin erblickt wurde, den Inhalt des Glaubens allseitig zu bestätigen, als vernunftgemäß zu begründen, in wissenschaftliche Form zu bringen u. verständlich zu machen – lauter Bestrebungen, worin schon die Kirchenväter und unter diesen namentlich Origenes u. Augustin mit gutem Beispiele vorangegangen waren und womit nach den Stürmen der Völkerwanderung unter sehr veränderten äußeren Verhältnissen von neuem angefangen werden mußte. Wie wenig das Wesen der S. begriffen ist, lehren die verschiedenartigen Eintheilungen ihrer Entwicklungsperioden, welche in der Geschichte der Philosophie von Brucker bis auf Ritter vorgenommen wurden. Die S. beginnt sogleich nach der Völkerwanderung; sie ist der wissenschaftliche Proceß, welcher aus dem Zusammenwirken des christlichen u. antiken Elementes im Bunde mit dem aus der Völkerwanderung herausgewachsenen neuen nationalen Geiste sich ergab u. in seinem Werden, Blühen und Vergehen der getreue Ausdruck des gesammten Mittelalters wurde. Mit Verweisung auf die Artikel über die einzelnen Namen genüge hier die allgemeine Charakterisirung des Entwicklungsganges der S. – I. Periode. Das Werden der S. dauert vom 6. Jahrh. n. Chr. bis zum Ende des 11. Zunächst wurden vom 6.–8. Jahrh. die wissenschaftlichen Erzeugnisse aus der Zeit der Kirchenväter den neuen Völkern durch Auszüge, Zusammenstellungen u. dgl. zugänglich gemacht: Cassiodor, Isidor von Sevilla, Tajus von Saragossa, Ildephons von Toledo, Beda venerabilis, Johannes Damascenus. Seit dem 8. Jahrh. wurden die unter Karl d. Gr. entstandenen Dom- und Klosterschulen Pflanzstätten der Wissenschaft, worin die denkende Durchdringung des Christenthums begann, durch dialectische Uebungen erstarkte, manchmal auch verirrte und namentlich dadurch Erörterungen über die wichtigsten dogmatischen Fragen, über die Menschwerdung Christi, Prädestination und Abendmahl, hervorrufen half, während die feste Gestaltung der Kirche Sammlungen ihrer Canones u. Decretalen nothwendig machte. Hier sind vorzüglich zu nennen: Paulinus von Aquileja, Alcuin, Paschasius Radbertus, der Mönch Gottschalk, Rhabanus Maurus, Hinkmar von Rheims, Scotus Erigena, Remigius, Gerbert (Papst Sylvester II.), Berengar, Lanfranc. Den Abschluß der 1. Periode aber bezeichnet Anselm von Canterbury (1033–1109), der als Metaphysiker alle Hauptmomente des christlichen Bewußtseins erörterte u. als einheitliches Begriffssystem vorführte, während gleichzeitig ganze Schaaren von Dialectikern, unter denen Roscelin hervorragte, die für die christlichen Begriffe ebenfalls wichtigen Fragen nach der Realität der Allgemeinbegriffe erörterten. In der II. Periode, nämlich in der vom 12. bis zum Anfang des 14. Jahrh. dauernden Blütezeit der S. erscheint die S. als System, das alle Momente des christlichen Bewußtseins als in einander greifende Glieder eines einheitlichen Ganzen darstellt, u. zugleich als Universalwissenschaft, wo alles Wissen der Zeit sich um die Theologie dreht wie die Erde um die Sonne. Schon im Anfange der Periode ist die Zahl der Scholastiker groß, die der Schöpfer von Systemen aber verhältnißmäßig noch gering: Abälard, Hugo von St. Victor, der die Theologie bereits als den Mittelpunkt u. die Herrin aller Wissenschaft erkannte, Peter der Lombarde, der klaren Blickes das Christenthum als historische Ueberlieferung in seiner Uebereinstimmung mit der Vernunft nachwies u. so der S. einen festen Grund und Boden verlieh. Fortwährend verfaßte man Apologien gegen Griechen, Juden und Häretiker und Abhandlungen über einzelne Glaubenslehren: Johann von Salisbury (st. 1180), Walter von St. Victor (st. 1173) und viele andere; Hauptvertreter der S. aber sind nach dem Lombarden: Alain von Lille (st. 1203), Peter von Poitiers (st. 1205), Wilhelm von Paris (st. 1223), Alexander von Hales (st. 1245) und vor allen Albertus Magnus (st. 1280), durch den die Theologie wirklich zur Universalwissenschaft, zum Kern einer vollständigen Encyklopädie des Wissens im 13. Jahrh. sich gestaltete. Um die Mitte des 13. Jahrh. hatte die S. ihren Höhepunkt erreicht, alle Wissenschaften und die Philosophie insbesondere waren der Theologie unterworfen d.h. ihre Erkenntnisse galten nur für wahr, insofern dieselben mit dem Dogma übereinstimmten. Solche Anschauung sollte man dem 13. Jahrh. um so weniger verübeln, weil das Dogma noch heute wie damals Anerkennung als absolute Wahrheit fordert und weil man heute wie damals folgerichtig nur zweierlei thun kann, nämlich entweder die positive Religion als Quelle aller Wahrheit und untrügliches Kriterium aller Ergebnisse der Wissenschaft annehmen od. verwerfen. Durch Albertus Magnus zumeist war die aristotelische Philosophie in ihrem ganzen Umfange Gemeingut der gebildeten Christenheit geworden u. blieb fortan ein wesentlicher Bestandtheil der S., welche mit ihrer Hilfe nicht nur die Dogmen in wissenschaftliche Begriffe zu verwandeln trachtete, sondern auch die Natur, den Menschen an sich u. in seinen gesellschaftlichen Verhältnissen erkennen wollte. Die S. als Universalwissenschaft in der damals möglichen Gestalt erhielt sich auf ihrer Höhe durch Bonaventur, Thomas von Aquin, auch Vincent von Beauvais, Heinrich von Gent und endlich durch Duns Scotus (gest. 1308), Sterne erster Größe im Reiche der Geister, deren Leistungen in neuester Zeit wiederum eine gerechtere Würdigung erhielten, als sie seit dem 16. Jahrh. gang u. gäbe gewesen. Die III. Periode, die der Auflösung der S., erstreckt sich vom 14. Jahrh. bis tief in das 16. hinein u. wurde herbeigeführt, indem erstens an die Stelle schöpferischer Genies die Thomisten, Scotisten u.s.w., die Commentatoren traten, durch welche wissenschaftliche Systeme zu jeder Zeit allmälig mumisirt werden; zweitens indem der Unterschied zwischen theologischem und philosophischem Wissen durch Solche, die sich mit dem Offenbarungsglauben ohne fortgesetzte wissenschaftliche Vermittlung begnügten u. durch Solche, die sich nichts um die Offenbarung und das durch sie erweiterte Wissen kümmerten, als Gegensatz auftrat; drittens endlich, indem sich Viele von der in fertigen Formeln erstarrten wissenschaftlichen Theologie abwendeten, um das christliche Bewußtsein auf andere Weise zu beleben und für das Volk fruchtbringend zu machen. Die schon von Roger Bacon und Raimund Lullus eingeleitete Lösung zwischen reintheologischer und mittelbar theologischer Wissenschaft gedieh zum Bruche durch den Nominalismus (Durandus, Occam, Buridan), der eine nicht auf die Offenbarung gegründete Erkenntniß der Dinge für vollkommen berechtigt u. alsgemach die Experimentalerkenntniß für die einzig wahre hielt, während unter den Gegnern selbst die tüchtigsten Theologen, ein Heinrich von Vrie (st. 1356), Petrus d'Ailly (gest. 1425), Johannes Turrecremata (st. 1458) u.a. sich nicht wesentlich über die Verknöcherung der scholastischen Theologie erhoben u. der alleinstehende Cusa nichts mehr auszurichten vermochte. Bereits im 12. Jahrh. waren denjenigen Scholastikern, welche das christliche Bewußtsein sich vorherrschend deßhalb aneigneten, um es denkend zu durchdringen und als wissenschaftlich erkanntes zu besitzen, solche entgegengetreten, welche es vorherrschend für sich u. andere zur Quelle des Lebens in Gott machen wollten: Bernhard von Clairvaux, Hugo, Richard u. Walter von St. Victor. Man hat diesen Gegensatz bisher als Gegensatz zwischen Scholasticismus u. Mysticismus oder allgemeiner als Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aufgefaßt, allein beide Parteien hatten ihre Mystiker, die Vereinigung von Theorie u. Praxis des Christenthums war ein Hauptziel der gesammten S., in der größern oder geringern Hinneigung zur Theorie oder zur Praxis lag der einzige Unterschied der Anschauungsweise beider Parteien. In der Blütezeit der S. während des 13. Jahrh. machte sich dieser Unterschied gar nicht geltend, seit dem 14. dagegen trat er wirklich als Gegensatz zwischen Scholasticismus u. Mysticismus auf und führte vielfach zu Einseitigkeit u. Abwegen: Meister Eckhart, Tauler, Suso, Ruysbroek, Gerhard (st. 1398), Vincenz Ferrerius, Gerson, Thomas von Kempen u.a.m. Ferner hatten häretische Anschauungen u. Bestrebungen während des ganzen Mittelalters hindurch sich geltend zu machen gesucht (Amalrich von Bena, David von Dinanto, Albigenser und Waldenser u.s.f.), allein erst seit dem Ende des 14. Jahrh. gewannen dieselben Bedeutung in weitern Kreisen: Wiclef u. Huß. – Die seit der Kreuzzugszeit sich vollendende nationale Gliederung der europ. Völker u. die Trennung der Theologie von der Philosophie, das Aufkommen sog. weltlicher Wissenschaften, nicht minder die nationalen Bestrebungen im Gebiete der Wissenschaft und Kunst sowie das Allgemeinwerden der Studien des classischen Alterthums im 15. Jahrh. hatten die Einheit des Bewußtseins der Kirche und des einzelnen Menschen im Großen und Ganzen gebrochen, dem in der Kirche verkörperten Princip der Autorität trat das der Subjectivität immer schroffer entgegen. So nahm im 15. Jahrh. das Mittelalter überhaupt ein Ende, aus seiner S. war der alte Geist entwichen, insofern dieselbe philosophische Theologie und Universalwissenschaft gewesen war und unbefangen oder unmittelbar aus dem kirchlichen Bewußtsein als dem lautern Quell aller Wahrheit und Erkenntniß geschöpft hatte. – Die scholastische Dialectik (s. Dialectik) begann mit der Form des Dialoges (Scotus Erigena, Anselm von Canterbury), schritt zur schroffsten Entgegenstellung der Gegensätze (Ja und Nein, Sic et Non des Abälard u. Petrus Lombardus) fort, um aus diesen das Wahre zu finden, endlich tritt am vollkommensten bei Thomas von Aquin u. Duns Scotus das Verfahren auf, welches Platon im Parmenides von der Dialectik gefordert: Aufstellung der These, der Einwände und Widersprüche, Stützung der These durch Berufung auf eine Autorität, positiver Beweis der These, Widerlegung und Entkräftung aller Einwände und entgegengesetzten Behauptungen. – Vgl. die Abhandlung von Mattes im Kirchen-Lexikon von Wetzer und Welte IX. 701 ff.


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