Streitkultur

Streitkultur
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Der Begriff Streitkultur kann unter vielen Aspekten (psychologisch, juristisch, literarisch, soziologisch, philosophisch, theologisch, historisch usw.) definiert werden.

Er wird ähnlich wie der Begriff politische Kultur nicht nur als sozialwissenschaftlicher Terminus verwendet, sondern ist mittlerweile auch alltagssprachlich und politisch besetzt.[1] Streitkultur zu besitzen bedeutet: mit Worten und Medien den eigenen Standpunkt vertreten zu können, ohne dem Anderen abzusprechen, dass auch er einen abweichenden Standpunkt besitzt und besitzen darf.[2] Streitkultur schließt ferner die Überzeugung ein, dass der Streit grundsätzlich Positives bzw. Bedeutendes hervorbringen kann, da er alte Normen und Fakten in Frage stellt und nach der Möglichkeit von Alternativen Ausschau hält, unabhängig davon wie nützlich oder angemessen das Bewährte auch ist.

Inhaltsverzeichnis

Demokratie und Streitkultur

In einer demokratischen Gesellschaft gibt es ein grundlegendes Prinzip: Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Meinungen. Die parlamentarische Demokratie lebt von der politischen Auseinandersetzung, von gegensätzlichen Interessen und der Suche nach einem Ausgleich zwischen diesen Interessen. [3] Während der Streit in autokratischen Systemen in der Regel als Schwächung der Gemeinschaft bzw. als Abweichung von akzeptierten und stabilisierenden Normen gewertet wird.

Deshalb wird in der Politik häufiger und vermehrt eine neue Streitkultur eingefordert. In der heutigen Mediengesellschaft werden Diskussion und Debatte jedoch häufig vermieden. Vielfach wird beklagt, dass Erklärungen nur mehr mediengerecht formalisiert aufgesagt werden. Fairer Streit um die Sache und das Ringen um vernünftige Kompromisse sind in der Demokratie aber unerlässlich. Demokratie bedarf des Streites, der Streit braucht Streitkultur. [4]

Konstruktive Streitkultur

Der Grundsatz einer konstruktiven Streitkultur lautet: Konflikte zwischen Einzelnen und Gruppen sind Normalität. Sie sind die natürliche, ja notwendige Folge eines lebendigen menschlichen Zusammenlebens. Das Problem ist weniger, ob es Konflikte gibt, sondern wie sie ausgetragen werden, d. h. wie die Konfliktpartner miteinander streiten: besonnen-kooperativ oder gewalttätig. [5]

Konstruktive Streitkultur heißt einander offen und fair die Meinung sagen, ohne zu verletzen. [6] Eine konstruktive Streitkultur beinhaltet unter anderem folgende Elemente (Regeln für faires Streiten):

  • Streit wird als normales Alltagsphänomen angesehen.
  • Streit gilt als etwas grundsätzlich Erlaubtes.
  • Streit unterhalb einer bestimmten Eskalationsstufe wird anders behandelt als jenseits dieser Eskalationsstufe.
  • Die Austragung des Streits unterliegt intersubjektiv bekannten Fairness-Regeln.
  • Alle Streitparteien haben Rechte, z.B. das Recht, den Streit auf später zu verschieben oder sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
  • Streiten ist kein sportlicher Wettbewerb.
  • Ein guter Streit endet mit einer Einigung und nicht mit dem Sieg der einen Partei über die andere.
  • Nach Beilegung des Streits ist die Beziehung zwischen den Konfliktgegnern nicht nachhaltig gestört.

Streitkultur lernen

In der Methodik des „Streiten-Lehrens“ haben sich unter anderem folgende Maßnahmen bewährt, die freilich nicht ausnahmslos für alle Situationen passen müssen: [7]

  • Auseinandersetzung mit den Regeln für faires Streiten
  • Aufklären über Störungen in der Streitkultur: z. B. über Sündenbock-Rollen, die Bedeutung von Vorurteilen für Gewaltbereitschaft
  • Einüben des Perspektiv-Wechsel, d. h. zu lernen sich in die Gefühle und Ängste des Streitpartners einzufühlen
  • Üben, im Streit kreativ Lösungen zu suchen und zu finden, die für alle Beteiligten befriedigend sind
  • Vorleben einer akzeptablen Streitkultur
  • Konsequenter Widerstand bei unangemessenem Streitverhalten

Methoden der Eristik

In einer Streitkultur ist es entscheidend, die Methoden der Eristik zu kennen. Zu diesen Methoden gehört die Rabulistik, das heißt die (zweifelhafte) „Kunst“, wortwörtlich „recht zu haben“ bei einer Sache, die inhaltlich unehrlich ist und nicht vertreten werden kann. Der Ausdruck Chewbacca-Verteidigung ist ein vor allem in den Vereinigten Staaten gebräuchlicher Begriff für die juristische oder politische Verteidigung eines Standpunktes mit unsinnigen Argumenten. 1864 wurde postum die Eristische Dialektik [8] des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer veröffentlicht. Zu ihr gehören 38 Kunstgriffe, rhetorische Tricks, die den Leser befähigen sollen, in einer Diskussion oder Debatte zu bestehen. Das Ignorieren der Gegenbeweise bezeichnet in der philosophischen Terminologie einen logischen Fehler, der darin besteht, dass man in einer Beweisführung eine andere Konklusion beweist als die ursprünglich in Frage stehende. Damit hat man also einen gültigen Beweis, aber für eine irrelevante Behauptung. Bei dem Tu-quoque-Argument überschneiden sich zwei Bereiche; einmal die Richtigkeit eines Verhaltens und dann die der Berechtigung, einem anderen Vorwürfe wegen eines Verhaltens machen zu können.

Literatur

  • Ulrich Sarcinelli: Demokratische Streitkultur. VS, 1990, ISBN 3-531-12240-1.
  • Wolfram Mauser (Hrsg.), Günter Sasse (Hrsg.): Streitkultur. Stragegien des Überzeugens im Werk Lessings. Niemeyer, 1993, ISBN 3-484-10695-6.
  • Bettina Gaus: Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur. DVA, Stuttgart 2000.
  • Peter Geißler, Klaus Rückert: Mediation, die neue Streitkultur. Psychosozial-Verlag, 2000, ISBN 3-898-06009-8.
  • Gerd Denk, Ramona Föth, Lena Schaumann: Streitkultur in der Grundschule (Praxis Pädagogik). Westermann, 2004, ISBN 3-141-62061-X.
  • Susanne Krahe: Aug' um Auge, Zahn um Zahn? Beispiele biblischer Streitkultur. Echter Verlag, 2005, ISBN 3-429-02669-5.
  • Verein für Friedenspädagogik Tübingen: Streitkultur. Konflikteskalation und Konfliktbearbeitung. Eine Bilderbox. 2. Auflage, 2001, ISBN 3-932444-06-X.
  • Uwe Baumann, Astrid Steiner-Weber, Arnold Becker (Hrsg.): Streitkultur – Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst. Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 2. V&R Unipress, 2008, ISBN 3899714652.

Weblinks

Einzelnachweise, Quellen, Fußnoten

  1. Ulrich Sarcinelli: Streitkultur in Deutschland.
  2. Learn-Line.nrw
  3. Bundestag – Streiten um der Sache willen
  4. Horst Köhler, Dezember 2006
  5. Herausforderung Gewalt, S. 17
  6. Konstruktive Streitkultur
  7. Herausforderung Gewalt, S. 20
  8. Schopenhauers Eristische Dialektik im Projekt Gutenberg

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