Ernst Grünfeld (Ökonom)

Ernst Grünfeld (Ökonom)

Ernst Grünfeld (* 11. September 1883 in Brünn; † 10. Mai 1938 in Berlin) war ein österreichischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Der Fabrikantensohn Grünfeld legte die Reifeprüfung am Gymnasium Brünn ab, diente 1901-02 als Freiwilliger in einem Dragonerregiment und war danach Landwirtschafts-Volontär auf einem Gut bei Troppau. Er studierte Landwirtschaft (Examen als Diplom-Landwirt), dann Staatswissenschaften und wurde 1908 zum Dr. phil. promoviert. Anschließend studierte er Volkswirtschaft an der Universität Leipzig und der Universität Wien. Von 1910 bis 1912 arbeitete er in einem Wirtschaftsarchiv in Tokio. 1913 habilitierte er sich an der Universität Halle. Am Ersten Weltkrieg war er als Offizier des österreichischen Landsturms beteiligt. Dabei wurde er hoch dekoriert (Franz-Joseph-Orden) und zum Rittmeister befördert. Ab 1919 lehrte Grünfeld an der Universität Halle, seit 1929 als ordentlicher Professor für Genossenschaftswesen.

Wegen seiner jüdischen Vorfahren wurde er im Mai 1933 beurlaubt und im September 1933 entlassen. Über sein Lebensende gibt es widersprüchliche Angaben. Bei Wittebur heißt es, Grünfeldt sei 1936 in die Niederlande emigriert und dort 1938 verstorben. Von Seiten der Universität Halle wird festgehalten [1], Grünfeld sei nach seiner Entlassung nach Berlin umgezogen und habe dort 1938 Selbstmord begangen, weil ihm als "Nichtarier" die Adoptivtochter weggenommen worden sei. Dies wird von Papcke ebenso dargestellt.

"Die Peripheren"

1939 veröffentlichte seine Ehefrau posthum sein Werk "Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie" in Amsterdam. Darin greift Grünfeld das bereits von Georg Simmel dargestellte Problem des "Fremden" auf. Er unterteilt die Peripheren in zwei Gruppen, die der Fremden und der (nichtfremden) Ausgesonderten. Ob Fremde oder Ausgesonderte als Randseiter oder Außenseiter zu beschreiben sind, sei eine Frage der Distanz zum Gebilde, "von dem oder zu dem eine neue Distanz gewonnen wurde." [2] Grünfeld betont in seiner Untersuchung insbesondere die Erfahrung des Ausgesondertseins:

"Wer solche Erlebnisse hinter sich hat, ist, wenn er nicht ganz stumpfsinnig ist, natürlich ein anderer Mensch geworden. Den einen erhebt so ein Erlebnis, den anderen drückt es nieder. Aber das Merkmal des aussondernden Erlebnisses wird sobald nicht aus der Seele des Peripheren getilgt werden können." [3]

René König liest Die Peripheren trotz „völlig sachzugewandter Systematik“ als Grünfelds soziologische Bearbeitung eigener Emigrationserfahrungen.[4] Dies ist laut Papcke ein Irrtum, dem auch Richard Albrecht und Rainer Lepsius aufsitzen, weil Grünfeldts letztes und bekanntestes Buch in den Niederlanden erschien. Nach Papckes Recherchen wurde das Buch von Grünfeldts Witwe Valerie, geb. Novotny, bei ihrer Emigration nach seinem Tod in die Niederlande geschmuggelt.[5] Grünfeldt hatte Die Peripheren in Deutschland, in der inneren Emigration geschrieben und so authentisch von der Erfahrung des Ausgesonderten berichtet, dass es wirkte wie eine „sozialwissenschaftliche Rechenschaft des Exils als Lebensform.“ [6]

Valerie[7] Grünfeldt schrieb im Vorwort der Peripheren:

"Mein Mann gehörte zu den Ersten, die das Geheimnis zu lüften suchen, das all die Menschen umgibt, die durch Geburt, Schicksal oder Schuld an die Peripherie ihres Lebenskreises gestellt werden." [8]

Bedeutung für die Sozialwissenschaft

Grünfeld leistete in mehreren Themenfelder der Sozialwissenschaft Besonderes.[9] Er begründete die deutsche Lorenz von Stein-Forschung und wies damit der Soziologiegeschichtsschreibung neue Wege. Seine Beiträge zur Entwicklung der Genossenschaften und zu ihrer sozialen Korrektivfunktion waren für reformpolitische Diskussionen bahnbrechend. Mit seinem posthum veröffentlichten Werk "Die Peripheren" schloss er konstruktiv an den "Exkurs über den Fremden" von Georg Simmel an und leiste zudem den ersten deutschen Beitrag zu Forschungen über den "marginal man", die von Robert Ezra Park ausgegangen waren.

Werke

  • Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre, Jena: Fischer, 1910.
  • Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea, Jena: Fischer, 1913 (Habilitationsschrift).
  • Die japanische Auswanderung, Berlin: Behrend, 1913.
  • Das Genossenschaftswesen, volkswirtschaftlich und soziologisch betrachtet, Halberstadt: H. Meyer Verlag, 1928.
  • Genossenschaftswesen, seine Geschichte, volkswirtschaftliche Bedeutung und Betriebswirtschaftslehre, Berlin : Industrieverlag Spaeth & Linde, 1929.
  • Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, Amsterdam: N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., 1939.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Vgl. Website "catalogus-professorum-halensis".
  2. Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, Amsterdam: N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., 1939, S. 3.
  3. Ernst Grünfeld: a.a.O., S. 79.
  4. Vgl. René König: Die Situation der emigrierten deutschen Soziologen in Europa, in: ders., Studien zur Soziologie. Thema mit Variationen, Frankfurt am Main: Fischer, 1971, S. 105 f.
  5. Vgl. Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Campus, Frankfurt am Main 1993, S. 117.
  6. Richard Albrecht: Wissenschaftler im Exil. Aber auch: Exil in der Wissenschaft, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 23. jg./Heft 9 (1984), S. 96 ff., hier S. 104.
  7. Das Buch ist "Erie" gewidmet und die Verfasserin des Vorworts bezeichnet sich als Erie Grünfeldt, wohl ein Kosename, den das Ehepaar verwendete.
  8. Erie Grünfeldt im Vorwort zu Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, Amsterdam: N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij, 1939, ohne Seitennummer.
  9. Vgl. dazu Papcke, a.a.O., S. 101.

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