Physiognomie

Physiognomie

Als Physiognomie (griech. physis = Körper, gnome = Wissen) bezeichnet man die äußere Erscheinung von Lebewesen, insbesondere des Menschen und hier speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. Vereinzelt versteht man darunter auch seine ganze Statur, etwa als Konstitutionstyp.

Inhaltsverzeichnis

Psychologie und Philosophie

Menschen lernen im Säuglingsalter, andere Menschen an der Physiognomie wiederzuerkennen (siehe Entwicklungspsychologie).

Die moderne Psychologie kann zeigen, auf welche Weise Menschen tatsächlich Emotionen über ihre Gesichtsmuskeln kommunizieren (siehe Mimik). Unter Physiognomie wird jedoch all das verstanden, was vom Kommunikationsverhalten unbeeinflusst bleibt − die Länge der Nase, Falten, Lage der Ohren etc.

Traditionell war für die Theorie der Mimik die Pathognomik zuständig, zu der die Theorie der Affekte und des Ausdrucks gehören. Die Mimik wurde als Satz von Zeichen verstanden, die an der Oberfläche des Körpers die Zustände der Seele anzeigen.

In der Philosophie ist diese Theorie Teil des Leib-Seele-Problems.

Physiognomik, Mimik und Phrenologie

Verschiedene Gefühlszustände und ihr physiognomischer Ausdrucksgehalt

Intuitiv glauben die meisten Menschen, dass aus der Physiognomie etwas über die Seele einer Person zu erfahren ist. Den Versuch, methodisch aus der körperlichen Erscheinung eines Menschen zu lesen, nennt man Physiognomik. Die Physiognomik ist eine uralte Teildisziplin der Medizin seit und mit Hippokrates und Galen. Die genaue Beobachtung von Gesichtsfarbe, Hautkonstitution, Pickeln oder Pusteln; die „facies Hippocratica“ als Gesicht eines Sterbenden wie die physiognomische Evaluation der gesamten Gestalt und der inneren Organe gehört dazu.

Von Pathognomik im Gegensatz zur Physiognomik spricht man allerdings erst seit Lavater und Lichtenberg. In der pseudoaristotelischen Schrift „Physiognomonika“ aus dem 3. Jh. v. Chr und in den meisten Traktaten der Folgezeit wird unter dem Begriff „Physiognomik“ meist auch die Mimik abgehandelt. Die ersten Einzelstudien zur Mimik kommen aus der Benimmlehre (Erasmus über das Grimassenschneiden von Schülern 1524) und dann aus der Kunst der frühen Neuzeit. Charles Le Brun, der Hofmaler von Louis XIV, hat 1688 ein mimisches Musterbuch angefertigt, wo 24 Gesichtsausdrücke mit den entsprechenden Begriffen dargestellt werden. Das posthum von Morel d'Arleux herausgebrachte berühmte Bilderbuch Le Bruns mit Vergleichen zwischen Mensch und Tier Traité concernant le rapport de la physionomie humaine avec celle des animaux (1806) greift ebenfalls antike Traditionen auf.

Bekannt wurde auch Charles Darwins Buch The Expression of Emotion in Animals and Men 1872. Entfernt angelehnt an Methoden Francis Galtons können heute per Computergrafik gemittelte Gesichter erstellt werden. Es wurde festgestellt, dass gemittelte Gesichter allgemein freundlicher und attraktiver wirken.[1][2] Als Vater der neueren Mimikforschung und Erfinder des FACS, Facial Action Coding System wurde Paul Ekman weltweit bekannt.

Kunst und Literatur

In der Neuzeit entwickelte sich ein starkes Interesse am Individuum und damit auch an der Physiognomie einzelner Personen. Die Geschichte der Porträtmalerei zeigt, dass das Interesse an individuellen Physiognomien zur gleichen Zeit aufkam wie das Interesse an Lebensgeschichte und Erfahrungen einzelner Individuen (siehe Autobiographie, Identität).

Eine wichtige Funktion von Porträts war es, die individuellen Gesichtszüge festzuhalten und für die Nachwelt zu bewahren. Nach den Malern der italienischen Renaissance war Albrecht Dürer der erste deutsche Künstler nach dem Mittelalter, der bewusst versuchte, die Gesichtszüge seiner Freunde und Geschäftspartner aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es mit dem Erscheinen von Johann Kaspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine Flut von Porträt-Gemälden, -zeichnungen und Silhouetten. Besonders das Profil des Gesichts galt als der Teil der Physiognomie, an dem besonders viel über die Seele abzulesen war, weshalb man häufig als Gesellschaftsspiel Schattenrisse von sich anfertigen ließ und ausdeutete.

Das Gesicht gilt häufig als Speicher für Charakter, Erfahrung und Lebensgeschichte. In Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray gibt es ein Porträtgemälde, das anstelle seines Besitzers altert. Sämtliche Sünden, die dieser begeht, hinterlassen seine Spuren nicht an ihm, sondern an dem Gemälde. Heute spielt die Fotografie eine ähnliche Rolle. Fotografische Porträts können die Veränderung individueller Physiognomien über die Jahre hinweg festhalten.

Recht

Steckbriefe, Reisepässe und Personalausweise verlassen sich auf die Unverwechselbarkeit der individuellen Physiognomie. Schon im Mittelalter wurde in amtlichen Dokumenten vermerkt, wie eine Person aussah, um sie zu identifizieren.

Mit der kriminalistischen Technik der Bertillonage wurden im 19. Jahrhundert physiognomische Messdaten archiviert und zur Identifizierung benutzt. Die Technik war jedoch zu ineffizient und wurde schnell durch die Speicherung von Fingerabdrücken ersetzt. Der englische Naturwissenschaftler Sir Francis Galton versuchte, mit Hilfe fotografischer Mehrfachbelichtung bestimmte gemeinsame physiognomische Merkmale von Verbrechern zu erkennen. Zu dieser auch rassistisch geprägten Forensik gehört auch die Phrenologie (Schädelkunde), die um 1800 von dem deutschen Arzt Franz Josef Gall entwickelt und von dem Italiener Cesare Lombroso 1867 in die Kriminologie eingeführt wurde. Einige Rassenkundler im Nationalsozialismus versuchten, besondere Erkennungsmerkmale jüdischer Gesichter festzuschreiben, und beriefen sich dabei auf Lombrosos Thesen.

Die heutige Polizei verwendet fotografische oder digitale Techniken, um die Physiognomie von Kriminellen und Verdächtigen nach Beschreibungen zu rekonstruieren (siehe Phantombild).

Die computergestützte Gesichtserkennung verlässt sich auf die unveränderlichen Merkmale der Physiognomie. Computer sollen so lernen, in einer Menschenmenge oder bei Sicherheitskontrollen einzelne Menschen zu erkennen und zu identifizieren.

Medizin

Veränderungen der Physiognomie wurden schon immer durch Masken und Kosmetik vorgenommen. Seit einigen Jahrzehnten wird plastische Chirurgie eingesetzt, um Physiognomien dauerhaft zu verändern. Dabei kann die rekonstruktive Chirurgie durch Prothesen eine durch Unfall oder Krankheit zerstörte Physiognomie wiederherstellen.

Da die Attraktivität des Gesichts Einfluss auf den sozialen Status haben kann, sind Veränderungen zu rein kosmetischen Zwecken immer beliebter, sind aber auch umstritten. Einige Fernsehsendungen machen sich die Popularität und den Sensationswert plastischer Chirurgie zunutze.

Weitere Formen der Körpermodifikation, die temporäre oder dauerhafte Eingriffe in die Physiognomie bedeuten, sind Piercings und Tattoos. Sie haben in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften eine größere Verbreitung erfahren und gelten ihren Trägern meistens als Zeichen für Individualität.

Literatur

  • Henning Mehnert: Formimpulse der literarischen Personendarstellung. Der Physiognomietraktat des Francesco Stelluti, in: Romanische Forschungen 1980, 371 ff.
  • TUMULT 31, Zeitschrift für Verkehrswissenschaften, Gesichtermoden, Berlin 2006. ISBN 978-3-9811214-0-7
  • Edith Mandel-Buck: Aussehen und Fähigkeit ergibt Wirkung mehr Infos hier Gesichtsstrukturen nach 3-in-One-Concepts
  • Allan Sekula: "Der Körper und das Archiv" 1967 (Artikel)
  • Talikizâde: Firasetname (“Buch von der Wissenschaft der Physiognomie”), Istanbul 1575
  • Claudia Schmölders, Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. DuMont, Köln 2000, ISBN 3-7701-5091-0
  • Norbert Glas: Das Antlitz offenbart den Menschen. Eine geistgemäße Physiognomik, I. Band, Stuttgart 1992

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Physiognomie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Quellen

  1. Computergraphikmethoden, um eine Reihe von Portraits aufeinander zu legen. [1]
  2. Zum Verlieben schön, Spektrum der Wissenschaft 11/2006, S. 28

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