Marinus van der Lubbe

Marinus van der Lubbe
Marinus van der Lubbe

Marinus van der Lubbe (* 13. Januar 1909 in Leiden oder Oegstgeest, Niederlande; † 10. Januar 1934 in Leipzig) war ein politisch links orientierter niederländischer Arbeiter, der am 27. Februar 1933 im brennenden Reichstag in Berlin festgenommen und im März mit vier – später mangels Beweisen freigesprochenen – Kommunisten wegen Brandstiftung angeklagt wurde. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes wurde er am 22. Dezember wegen „Hochverrats in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung“ im sogenannten Reichstagsbrandprozess durch das Reichsgericht in Leipzig zum Tode verurteilt; das Urteil wurde 1934 vollstreckt. Von 1967 bis 1983 wurde das Urteil von deutschen Gerichten mehrfach abgemildert, für ungültig erklärt oder in veränderter Form wieder bestätigt. Im Dezember 2007 wurde es auf der Grundlage des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege von 1998 endgültig aufgehoben.

Die Schuld van der Lubbes wurde bereits kurz nach dem Brand erstmals angezweifelt, zumal die Nationalsozialisten den Reichstagsbrand als Vorwand nahmen, um gegen die deutschen Kommunisten vorgehen zu können. Ob er Anarchist oder Rätekommunist war, ist umstritten.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Die Eltern van der Lubbes waren geschieden, die Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war. Er wuchs in der Familie seiner Halbschwester auf. Marinus van der Lubbe begann in den zwanziger Jahren eine Ausbildung als Maurer. Wegen seiner körperlichen Stärke wurde er von den Freunden „Dempsey“ genannt. Nach einem Arbeitsunfall im Jahre 1925 und wegen eines daraus resultierenden Augenleidens konnte er seinen Beruf nicht weiter ausüben. In den folgenden Jahren schloss er sich einer Splittergruppe der niederländischen Kommunistischen Partei, der mit der deutschen KAPD eng verwandten Partei der niederländischen Rätekommunisten KAPN, an und engagierte sich für diese auch öffentlich. Wegen einer Auseinandersetzung mit seiner Schwester zog er 1927 nach Leiden, wo er das „Leninhaus“ gründete, einen Ort für politische Vorträge und Treffen. In Leiden kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. 1930 musste van der Lubbe für zwei Wochen in Arrest, weil er bei der Sozialbehörde Scheiben eingeworfen hatte.

Von den parlamentarisch aktiven Kommunisten entfernte sich van der Lubbe immer mehr, da sie ihm zu wenig radikal und kämpferisch waren. Er favorisierte die Direkte Aktion.

Zwischen 1928 und 1932 war van der Lubbe wiederholt auf Wanderschaft durch Europa. Sein Plan, in die Sowjetunion auszuwandern, scheiterte, da ihm die Einreise verwehrt wurde.

Der Reichstagsbrand

Obwohl er Anfang 1933 an Augentuberkulose (Iridocyclitis tuberculosa) erkrankte, reiste er kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten nach Berlin, um sich dort am aktiven Widerstand zu beteiligen. Sein Versuch, Arbeitslose und Arbeiter gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu mobilisieren, misslang. Er versuchte am 25. Februar 1933, das Wohlfahrtsamt in Berlin-Neukölln und das Berliner Rathaus, schließlich sogar das Berliner Schloss in Brand zu stecken. Alle Brände wurden schnell entdeckt und gelöscht.

Die Nacht vor dem Reichstagsbrand verbrachte van der Lubbe in einem Hennigsdorfer Obdachlosen-Asyl. Der Autor Hans Bernd Gisevius, der am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt war, hat angegeben, Anhaltspunkte entdeckt zu haben, dass van der Lubbe hier von einem Mitbewohner zu seiner Tat angestiftet worden sein könnte.

Am Abend des 27. Februar wurde van der Lubbe im brennenden Reichstagsgebäude festgenommen und der Brandstiftung beschuldigt, welche er in den darauf folgenden Verhören auch zugab. Zur Aufklärung des Reichstagsbrands setzte Hermann Göring eine Sonderkommission ein, die von Rudolf Braschwitz geleitet wurde. Der insgesamt vierköpfigen Kommission gehörte neben Reinhold Heller auch der Kriminalbeamte Helmut Heisig an, der van der Lubbe wenige Stunden nach dem Brand als erster verhörte. Am 9. März wurde gegen van der Lubbe und den damaligen Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der KPD Ernst Torgler sowie die drei bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrow, Blagoi Popow und Wassil Tanew Anklage erhoben.

Trotz seines schlechten psychischen Gesundheitszustandes wurde van der Lubbe am 22. Dezember 1933 wegen „Hochverrats in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung“ im so genannten Reichstagsbrandprozess durch das Reichsgericht in Leipzig zum Tode verurteilt. Die Mitangeklagten wurden mangels Beweisen freigesprochen, jedoch zunächst zur „Schutzhaft“ in ein Konzentrationslager eingeliefert. Das Todesurteil gegen van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 in Leipzig durch den Henker Alwin Engelhardt mit dem Fallbeil vollstreckt. Er verzichtete sowohl auf priesterlichen Beistand als auch auf die Möglichkeit, einen Abschiedsbrief zu verfassen. Van der Lubbe wurde auf dem Leipziger Südfriedhof anonym beerdigt.

Juristisches Nachspiel

Gedenkstein für Marinus van der Lubbe auf dem Leipziger Südfriedhof

34 Jahre nach dem Reichstagsbrand wurde das Urteil 1967 vom Landgericht Berlin teilweise abgeändert und die Todesstrafe nachträglich zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren ermäßigt. Sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch der Bruder Jan van der Lubbe legten hiergegen Beschwerde beim Kammergericht Berlin ein. Beide Beschwerden wurden vom 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 17. Mai 1968 verworfen. Nach Ansicht des Kammergerichts entfalle

„jeder darauf gegründete Verdacht, dass die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 aus politischen Gründen unter Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze getroffen worden sind.“

Ein weiterer Wiederaufnahmeantrag von van der Lubbes Bruder Jan, vertreten von Robert Kempner, dem ehemaligen Mitankläger bei den Nürnberger Prozessen, hatte Erfolg. Im Jahre 1980 wurde das Reichsgerichtsurteil durch Beschluss des Landgerichts Berlin vollständig aufgehoben und van der Lubbe freigesprochen.[1] Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Kammergericht diesen Beschluss des Landgerichts Berlin wieder auf,[2] sodass es bei der teilweisen Aufhebung von 1967 blieb. Der Fall beschäftigte mehrmals den Bundesgerichtshof, der 1983 entschied, dass eine weitere Wiederaufnahme des Verfahrens unzulässig sei und der damalige Beschluss aus dem Jahre 1967 damit Bestand habe.[3]

Am 6. Dezember 2007 hat die Bundesanwaltschaft schließlich „festgestellt, dass das Urteil gegen den im ‚Reichstagsbrandprozess’ verurteilten Marinus van der Lubbe aufgehoben ist.“ Grundlage für die Feststellung war das NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz aus dem Jahre 1998, nach dem Urteile aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 von Amts wegen aufzuheben sind, wenn sie auf spezifischem nationalsozialistischen Unrecht beruhen.[4]

Die Schuldfrage

Bereits kurze Zeit nach der Verhaftung van der Lubbes gab es Zweifel an seiner tatsächlichen Schuld. Sein geistig verwirrtes Auftreten im Prozess ließ Zweifel aufkommen, ob er denn wirklich in der Lage gewesen sei, allein das Parlamentsgebäude anzuzünden und ob demnach sein Geständnis glaubhaft sein könne. Darüber hinaus wurde auch seine Schuldfähigkeit bezweifelt. Vielfach wurde vermutet, dass man ihn zum Prozess absichtlich unter Drogen gesetzt habe.

Auf Kritik stieß auch, dass die Grundlage für das Todesurteil die erst nach der Tat in Kraft getretene Reichstagsbrandverordnung und die sogenannte Lex van der Lubbe waren. Vor der Tat wurde Brandstiftung ohne Todesfolge nicht mit dem Tod bestraft. Damit verstieß das Gericht gegen das Verbot rückwirkender Gesetze (nulla poena sine lege).

Die Nationalsozialisten nahmen van der Lubbes Anwesenheit im brennenden Reichstag als Anlass für eine brutale Verfolgung ihrer Gegner. Schon kurz nach dem Brand setzte eine Welle von Verhaftungen ein, von der etwa 1500 Menschen – insbesondere Kommunisten – betroffen waren. Mit großem Propagandaaufwand wurde die Tat der KPD angelastet. Hitler nutzte die Gelegenheit, mit der Reichstagsbrandverordnung die Verfassungsartikel außer Kraft zu setzen, die bürgerliche Freiheiten garantierten. Diese Verordnung lieferte bis 1945 formal die Rechtsgrundlage für viele Maßnahmen gegen Personen und Vereinigungen, welche das nationalsozialistische Regime als Gegner einschätzte.

Politische und geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen

Ebenfalls unmittelbar nach der Tat setzte ein Streit über die Beweggründe und die politische Motivation van der Lubbes ein. Van der Lubbe selbst meinte in seinem umstrittenen Geständnis hierzu, dass er die Tat ganz allein unternommen habe, um die „deutsche Arbeiterschaft zum Widerstand gegen die kapitalistische Herrschaft und die faschistische Machtergreifung aufzurufen.“

Die Nationalsozialisten sahen in van der Lubbe vor allem den Kommunisten, der quasi nur zufällig Niederländer war. Sie benutzten den Reichstagsbrand als Vorwand, um gegen die deutschen Kommunisten vorgehen zu können.

Die Kommunisten ihrerseits distanzierten sich von van der Lubbe. Zwei Monate nach dem Reichstagsbrand brachten führende Mitglieder der KPD das „Braunbuch“ heraus, das in 17 Sprachen übersetzt wurde. Es befasst sich mit den Greueltaten der Nazis, enthielt aber auch eine diffamierende Kampagne gegen die niederländischen Rätekommunisten. So wurde behauptet, dass van der Lubbe im Auftrag oder zumindest nach Absprache mit den Nazis gehandelt habe, zudem wurde van der Lubbe vorgeworfen, homosexuelle Kontakte gehabt zu haben und ein Antisemit zu sein. Zudem wurde bestritten, dass van der Lubbe überhaupt politische Ziele mit seiner Tat verfolgt habe. Inhaltlich kritisierten die Kommunisten vor allem, dass die Tat zu wenig durchdacht gewesen sei und unmöglich zu einer Mobilisierung der Massen führen konnte. Im Gegenteil reduzierte sie die Möglichkeit für politischen Widerstand auf Null.

Als Reaktion auf das „Braunbuch“ erschien ebenfalls 1933 das „Roodboek“ (Rotbuch) in Amsterdam. Es wurde vom Internationale van der Lubbe Komitee herausgegeben, einer Organisation niederländischer Rätekommunisten und Anarchisten. Diese warfen darin der SPD und KPD vor, wegen ihrer Unfähigkeit, den Reichstagsbrand konstruktiv zu nutzen, und ihrer Distanzierung von van der Lubbe, „Verrat an der Arbeiterklasse“ begangen zu haben. Zugleich sollte mit Briefen und Tagebuchaufzeichnungen der politische Hintergrund der Tat verdeutlicht werden.

1959 veröffentlichte Fritz Tobias in einer Artikelserie im Spiegel die These, wonach Marinus van der Lubbe den Reichstag alleine und ohne Mittäter angezündet habe. Die „Alleintäter-These“, die Tobias 1962 in Form eines umfangreichen Buches bekräftigte, wurde allerdings im Jahre 1966 durch den Schweizer Geschichtsprofessor Walther Hofer und das sogenannte Luxemburger Komitee bestritten. Seitdem schwelt in der Geschichtswissenschaft eine (zeitweise sehr erbittert geführte) Kontroverse um die Urheberschaft der Reichstagsbrandstiftung. Eine Mehrheit der Historiker folgt dabei – bei unterschiedlicher Gewichtung der Rolle der Nationalsozialisten – der „Alleintäter-These“, eine Minderheit – darunter Alexander Bahar und Wilfried Kugel – bestreiten diese und gehen von einer Hauptschuld des NS-Regimes aus. Der Historiker Hermann Graml wiederum hat sowohl an der These der Alleintäterschaft wie auch an der Meinung, die Nationalsozialisten seien die Täter gewesen, erhebliche Zweifel.[5] Die Debatte ist noch nicht beendet.

Literatur

Weblinks

 Commons: Marinus van der Lubbe – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Landgericht Berlin, Beschluss vom 15. Dezember 1980, 510 - 17/80, StV 1981, 140.
  2. Kammergericht, Beschluss vom 21. April 1981, 4 Ws 53/81, NStZ 1981, 273.
  3. Bundesgerichtshof, Beschluss vom 2. Mai 1983, 3 ARs 4/83 - StB 15/83, BGHSt 31, 365.
  4. Bundesanwaltschaft: Aufhebung des Urteils gegen Marinus van der Lubbe festgestellt
  5. Hermann Graml: Zur Debatte über den Reichstagsbrand. In: Dieter Deiseroth (Hrsg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht. Berlin 2006, ISBN 3-922654-65-7, S. 27–34.

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