Geier [1]

Geier [1]

Geier (Vulturidae, hierzu Tafel »Geier«), Familie der Raubvögel, große Vögel mit starkem, langem, geradem, an der Spitze hakig übergebogenem, mehr als zur Hälfte mit einer Wachshaut bekleidetem Schnabel, nacktem oder mit Daunen bedecktem Kopf, langen, breiten und abgerundeten Flügeln und mittellangem, zugerundetem oder stark abgestuftem Schwanz. Die Füße sind mittelhoch, stark, von der Ferse ab unbefiedert; die Zehen lang, schwach, nicht greiffähig, mit kurzen, wenig gebogenen, stumpfen Nägeln. Die Weibchen sind größer als die Männchen. Die G. stehen an geistiger Begabung hinter Adlern und Edelfalken zurück; sie sind scheu, jähzornig, feig und leben zwar gesellig, aber selten friedfertig. Sie fliegen langsam, mit großer Ausdauer und nähren sich fast ausschließlich von Aas, das sie in weiter Entfernung erspähen Sie finden sich überall in wärmern Gegenden, mit Ausnahme Neuhollands, in der Ebene und auf den höchsten Gebirgen, schweifen weit umher und suchen ihre Nahrung z. T. in Städten, für die sie in Südasien, Afrika und Südamerika charakteristisch sind. Sie fressen ungemein gierig, so daß sie nach der Sättigung oft am Fliegen behindert sind. Sie horsten gesellig auf Felsen, Bäumen oder auf der Erde und tegen 1–2 gräuliche oder gelbliche, dunkler gefleckte Eier, die wahrscheinlich von beiden Eltern ausgebrütet werden. Die Jungen erlangen erst nach mehreren Monaten Selbständigkeit. Sie werden von den Alten sorgsam behütet, gegen den Menschen aber kaum ernstlich verteidigt. In der Gefangenschaft sind G. leicht zu erhalten und haben wiederholt Anstalten zur Fortpflanzung gemacht.

Der Gänsegeier (Weißköpfiger, fahler G., Gyps fulvus Gm., Tafel, Fig. 3), 1 m lang, 2,6 m breit, mit gestrecktem, schlankem Schnabel, langem, gänseartigem, spärlich mit weißen, flaumartigen Borsten besetztem Hals und niedrigen Füßen. Die Federn der Halskrause und des Nackens sind in der Jugend lang und flatternd, dunkel fahlbraun, im Alter zerschlissen und haarartig, weiß oder gelblichweiß; das übrige Gefieder ist sehr gleichmäßig licht fahlbraun, unterseits dunkler. Die Flügeldeckfedern bilden eine lichte Binde auf der Oberseite, die Schwingen erster Ordnung und die Steuerfedern sind schwarz, die Schwingen zweiter Ordnung graubraun, fahl gerandet; die Wachshaut ist dunkel blaugrau. Der Gänsegeier findet sich in Siebenbürgen, Südungarn, in Krain, Kärnten und im Salzkammergut, auf der Balkanhalbinsel, in Spanien, Sardinien, Sizilien, Nordostafrika, Westasien bis zum Himalaja und verfliegt sich bisweilen nach Deutschland, lebt gesellig, läuft und fliegt sehr gut, ist äußerst jähzornig und tückisch und greift angeschossen den Menschen an. Vom Aas frißt er besonders die Eingeweide, soll sich aber auch über kranke oder sonst wehrlose Tiere hermachen. Er bildet Nistansiedelungen auf Felsen, und das Weibchen legt ein weißes, stark nach Moschus riechendes Ei, das es gemeinsam mit dem Männchen bebrütet. In Ägypten dienen Schwung- u. Steuerfedern zu Schmuck- und Wirtschaftsgegenständen. In Kreta und Arabien soll der Balg als Pelzwerk benutzt werden. Der Kuttengeier (Mönchsgeier, grauer, brauner, gemeiner G., Schopfgeier, Vultur monachus L., Tafel, Fig. 1), der größte Vogel Europas, ist 1,16 m lang, 2,8 m breit. Der Kopf ist mit kurzem, krausem, wolligem Flaum bedeckt, der am Hinterkopf einen Schopf bildet. Hinterhals und einige Stellen des Vorderhalses sind nackt; eine bis an den Hinterkopf reichende Halskrause besteht aus kurzen, breiten, kaum zerschlissenen Federn. Er ist gleichmäßig dunkelbraun, Schnabel und Wachshaut sind blau, die nackte Stelle am Hals ist licht blaugrau, ein nackter Ring ums Auge violett. Er findet sich in Südeuropa, Slawonien, Kroatien und in den Donautiefländern, in Asien bis China und Indien und in Nordostafrika, verfliegt sich auch bis Deutschland. Seine Haltung ist adlerartiger als die des vorigen; er frißt hauptsächlich Muskelfleisch, verschlingt Knochen und ergreift auch lebende Säugetiere. Er horstet einzeln auf Bäumen und legt ein weißes Ei. Der Schmutzgeier (Aas-, Maltesergeier, ägyptischer, heiliger G., Alimosch, Henne der Pharaonen, Neophron percnopterus L., Tafel, Fig. 2), 70 cm lang, 1,6 m breit, mit kurzem, kräftigem Leib, etwa kopflangem Schnabel, langen, ziemlich spitzen Flügeln, langem, abgestuftem Schwanz und mittelhohem, an der Ferse unbefiedertem Fuß. Das Gefieder ist am Hinterhals verlängert, Gesicht und Kopf sind nackt. Die Färbung ist schmutzig weiß, Hals und Oberbrustgegend mehr oder weniger dunkelgelb, Handschwingen schwarz, Schulterfedern gräulich; der nackte Kopf, der Kropffleck und der Schnabel sind orangegelb, letzterer an der Spitze hornblau. Er findet sich als Zugvogel in Südeuropa, auch in der Schweiz, selten in Salzburg, Kärnten, Steiermark, häufig und als Standvogel in fast ganz Afrika, West- und Südasien. Er lebt gesellig, ist friedfertig, nährt sich von Menschenkot, Abfällen der Schlächtereien und Aas und wird dadurch für die afrikanischen und asiatischen Städte ein großer Wohltäter. Er wird dort nicht verfolgt, kommt sorglos in die größte Nähe des Menschen und begleitet die Karawanen tagelang. Bisweilen ergreift er auch kleine Säugetiere (Mäuse) und Vögel, Kriechtiere und frißt Eier. Er horstet in kleinen Gesellschaften an steilen Felswänden, auch auf alten Gebäuden etc. und legt 1–2 gelblichweiße, lehmfarben oder braun gefleckte Eier. In der Gefangenschaft wird er zahm wie ein Hund. Sein Bildnis findet sich auf altägyptischen Bauwerken (s. unten). Der Kappengeier (Neophron pileatus Burch.). 68 cm lang, 1,7 m breit, mit etwas kürzerm Schnabel und gerade abgestutztem Schwanz, am Scheitel, Wangen und Vorderhals nackt, gleichmäßig dunkel erdbraun, an Hinterkopf und Hals gräulich braun, am Kopf schmutzig weiß, am nackten Kopf bläulichrot, mit hornblauem, an der Spitze dunklerm Schnabel und violetter Wachshaut. Er bewohnt Mittel- und Südafrika, lebt sehr gesellig, verkehrt fast wie ein Haustier in den Ortschaften, wo er sich durch Vertilgung von Kot und Abfällen nützlich macht, raubt niemals lebende Tiere, ruht nachts auf Bäumen fern von menschlichen Wohnungen und nistet in großen Ansiedelungen in Wäldern. Das Weibchen legt nur ein grauweißes, lehmrot geflecktes Ei, das, wie es scheint, von beiden Geschlechtern ausgebrütet wird. Der Lämmer- oder Bartgeier (s.d.) gehört der Unterfamilie der Bartgeier (Gypaetinae), der Kondor (s.d.) der Unterfamilie der Kondore (Cathartinae) an.

Der G. spielt in der Mythologie oft eine ähnliche Rolle wie der Adler. Der indische G. Gatayu weiß alles Vergangene und alles Zukünftige, weil er die ganze Erde durchmessen hat. Er kämpft mit den Ungeheuern und ist den Herden und den Göttern freundlich gesinnt. Nach Herodot war der G. dem Herakles befreundet, er kündigt dem Romulus, Cäsar und Augustus die Alleinherrschaft an. Verbrannte Geierfedern vertreiben Schlangen, erleichtern die Geburtswehen. Die Gefräßigkeit des Geiers wurde bei den Alten sprichwörtlich, er wittert Leichname, sogar schon vor dem Tod, und daher wurden hungerige Erben G. genannt. Bei den Germanen galt er für ein böses Prinzip (daher die Verwünschung). Bei den Ägyptern war er Symbol der Sonne, und weil sie glaubten, daß es unter den Geiern nur Weibchen gebe, die vom Ostwind befruchtet würden, war er das Symbol der Mutter und der Göttin Neïth geheiligt, die mit einem Geierkopf abgebildet wurde.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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