Heimerziehung

Heimerziehung
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Unter Heimerziehung wird die Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung verstanden, in der Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht pädagogisch betreut werden, um sie durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung zu fördern. Der Ursprung der heutigen Heimerziehung liegt in dem klassischen Kinderheim, sie hat sich aber wesentlich weiter entwickelt. Der reine Fürsorgegedanke wurde durch das Partizipationsprinzip abgelöst. Für einen Großteil der Bevölkerung stellt das Kinderheim noch immer die klassische Jugendhilfemaßnahme dar. Erst in letzter Zeit hat sich die Assoziationskette Jugendamt- bzw. Jugendfürsorge-Heim gelockert.

Inhaltsverzeichnis

Deutschland

Hintergrund

Heimerziehung soll das „letzte Mittel“ sein, wenn Probleme in der Familie auftauchen. War es früher üblicher, Kinder relativ schnell in ein Heim zu geben, gehen viele Jugendämter heute dazu über, ambulante Hilfen oder auch teilstationäre Hilfen zu empfehlen, um dem Kind oder Jugendlichen weiterhin einen regelmäßigeren Kontakt zur Familie und seiner vertrauten Umgebung zu ermöglichen. Für die Frage, welche Maßnahme durchgeführt wird, sollen das Kindeswohl, nicht finanzielle Gründe maßgeblich sein.

Rechtsgrundlage

Die Heimerziehung ist nach § 34 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) eine Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht. Zwar hat jeder Personensorgeberechtigte einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Einen besonderen Rechtsanspruch auf Heimerziehung gibt es aber nicht. Vor der Fremdunterbringung ist ein ordentliches Hilfeplanverfahren nach § 36 des SGB VIII durchzuführen.

Im Rahmen des § 1666 BGB (Kindeswohlgefährdung) kann ein Familiengericht auf Initiative des Jugendamtes die Unterbringung in einem Heim oder eine andere Hilfe gegen den Willen der Sorgeberechtigten (Eltern) anordnen. Dies geschieht bei Kindeswohlgefährdung und wenn die Sorgeberechtigten nicht in der Lage oder gewillt sind, die Gefahr abzuwenden.

Kosten

Die Kosten der Heimerziehung betragen bis zu 4000 Euro im Monat. Im Rahmen der Angemessenheit und Leistungsfähigkeiten werden dazu zuerst das Kind selbst, dann sein Ehepartner/Lebenspartner und dann seine Eltern herangezogen. Bei vollstationärer Unterbringung hat jedes Elternteil im Allgemeinen mindestens das an dieses Elternteil ausgezahlte Kindergeld zu leisten.[1] Die zu zahlenden Beiträge sind der seit 2005 geltenden Kostenbeitragsverordnung zu entnehmen.[2] Vom tatsächlichen Einkommen dürfen viele Kosten abgesetzt werden, mindestens 25 %, dann ergibt sich das maßgebliche Einkommen. Liegt dies unter 750 Euro, so sind keine Beiträge zu zahlen. Bei einem maßgeblichen Einkommen oberhalb von 750 Euro sind etwa folgende Anteile des maßgeblichen Einkommens zu zahlen: Für die erste Person in vollstationärer Unterbringung 25 %, für die zweite 15 %, für die dritte 10 %, für die weiteren 0 %, für Personen in teilstationärer Pflege 5%, wenn diese mehr als 5 Stunden pro Tag umfasst, und 3% wenn sie einen geringeren Zeitumfang hat.[3] Insgesamt ist maximal die Hälfte des maßgeblichen Einkommens zu zahlen.[4] Für einen jungen Volljährigen in vollstationärer Einrichtung sind maximal 710 Euro von jedem Elternteil zu zahlen.[5]

Einrichtungen und Konzepte der Kinder- und Jugenderziehung

Von dem Heim kann heute nicht mehr gesprochen werden. Es gibt heute unterschiedliche Formen vollstationärer Angebote. Die einzelnen Unterbringungformen unterscheiden sich stark in Angebot, Zielgruppe, Betreuungschlüssel, Lage und nicht zuletzt auch durch die Größe. Eine Liste mit allen Formen, Mischformen und Varianten würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die Häuser werden zum größten Teil von Stiftungen, kirchlichen und freien Trägern betrieben. Die Einrichtungen sind stark abhängig von der Belegungspolitik der Jugendämter und diese wiederum von der Finanzierungspolitik der Kommunen.

Folgende Unterbringungskonzepte können herausgestellt werden:

Jugendwohngruppen

Diese „klassische“ Form ist meist eine Wohnung in einem größeren Haus, in dem ca. 8 Kinder und/ oder Jugendliche leben. Zur Seite stehen ihnen Erzieher und Sozialpädagogen, die dort im Schichtdienst arbeiten und eine Versorgung und Betreuung rund um die Uhr gewährleisten. Realisiert sind auch Heime, die aus mehreren Häusern bestehen, in denen jeweils eine Gruppe lebt. Gesondert kann auch ein zentraler Speisesaal, zentrale Wäscherei oder Küche Bestandteil sein. Die früher häufiger anzutreffenden Großgruppen existieren heutzutage nicht mehr. Es ist eher der Trend zu beobachten, die Gruppengröße als auch die Alters- und Geschlechterstruktur noch familienähnlicher zu gestalten. Andere Heime wiederum konzentrieren sich auf bestimmte Altersgruppen wie Kleinkinder und Jugendliche oder auf Probleme wie Drogenkonsum oder Sexueller Missbrauch und richten ihr fachliches Profil entsprechend aus.

Wenn die Betreuung von Erziehern und Erzieherinnen (öfter auch Paare) gewährleistet wird, die selbst fest in ihrer Gruppe leben, spricht man von einer Wohngruppe mit innenwohnendem Erzieher, Kleinsteinrichtung oder einer familienähnlichen Wohngruppe. Eine solche Betreuungsform stellen die Kinderdörfer dar.

Siehe auch: Erziehungsstelle

Betreutes Wohnen

Beim so genannten Betreuten Jugendwohnen wird in der Regel ebenfalls eine Rund-um-die-Uhr Betreuung durch Erzieher und Sozialpädagogen gewährleistet. Zielgruppen sind eher etwas ältere Jugendliche, die z. B. in Verselbständigungsgruppen leben. Das Ziel ist, die jungen Menschen an ein selbstständiges Leben heranzuführen. Jugendliche, die in einer Wohnung oder in einem Haus leben und nur noch stundenweise von Erziehern oder Sozialpädagogen aufgesucht werden, nennt man Jugendwohngemeinschaften. Es ist auch möglich, dass ein Jugendlicher alleine in einer Wohnung lebt. In diesem Fall wird von betreutem oder mobilem Einzelwohnen gesprochen.

Mutter-Kind-Betreuung

Bei dieser Wohnform leben die Mütter zusammen mit ihren Kindern in einer Einrichtung; dabei kann es sich um ein betreutes Einzelwohnen der jungen Mutter oder auch um eine Wohngemeinschaft/Gruppe aus mehreren Müttern mit ihren Kindern handeln. Verschiedene Kommunen haben spezielle Projekte ins Leben gerufen, um z. B. minderjährigen Müttern ein betreutes Aufziehen ihrer Kinder zu ermöglichen und den Müttern selbst auch Betreuung zu gewährleisten. Auch viele freie Träger haben inzwischen Betreuungsmöglichkeiten für minderjährige Mütter und ihre Kinder in ihrem Angebot. In diese Form der Heimunterbringung fallen auch die Familienaktivierenden Gruppen, die zum Teil aber auch von anderen Heimen als zusätzliches Angebot durchgeführt werden.

Geschlossene Unterbringung

Im wesentlichen Unterschied zu den oben genannten Gruppen kann ein Kind oder Jugendlicher nur mit richterlicher Genehmigung (auf Antrag des Sorgeberechtigten = Eltern, -teil oder Vormund) in einem geschlossenen Heim untergebracht werden. Es handelt sich um eine mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung nach § 1631b BGB. In solchen Einrichtungen sind Fenster, Türen, etc. gegen Flucht gesichert. Hintergrund für die geschlossene Unterbringung sind oft strafrechtliche Schwierigkeiten der Jugendlichen, aber auch Selbst- und Fremdgefährdungssituationen, die jedoch keine psychiatrische Unterbringung implizieren. Unter besonderen Umständen kann auch häufiges Entweichen und mangelnde Erreichbarkeit mit anderen Betreuungsformen der Anlass sein. Die geschlossene Unterbringung als Form der sozialpädagogischen Betreuung wird stark kritisiert und wird in vielen Bundesländern nicht angewendet. In den letzten Jahren ist allerdings wieder eine Zunahme solcher Maßnahmen zu beobachten, was sich u. a. in langen Wartezeiten bei bestehenden Einrichtungen bzw. in Neugründungen entsprechender Einrichtungen abbildet. Die Zahl der Plätze für geschlossene Unterbringungen liegt bundesweit bei mindestens 200, darüber hinaus gibt es noch eine nicht unwesentliche Anzahl von Einrichtungen mit teilgeschlossener Unterbringung, welche unter ähnlichen Settings, allerdings innerhalb rechtlicher Grauzonen arbeiten.

Kurzzeitunterbringung, Clearing

Mitunter dient eine Heimunterbringung lediglich der räumlichen Trennung von Personensorgeberechtigten und Kind für eine gewisse Zeit, um eine verfahrene Situation zu entspannen. Eine Kurzzeitunterbringung erfolgt auch mit dem Ziel, den Hilfebedarf abzuklären und mögliche Lösungen zu finden. Für solche Fälle stehen in einigen Städten so genannte Clearingstellen zur Verfügung, die konzeptionell auf stark fluktuierenden Gruppen eingerichtet sind. Die Dauer der Kurzzeitunterbringung beträgt ein paar Tagen bis zu mehreren Wochen.

Mischformen/ Varianten

Die Unterschiede in der Ausgestaltung der Grundkonzepte der Heime sind vielfältig. Neben der klassischen Form gibt es z. B. Wohngemeinschaften mit erhöhtem Betreuungsbedarf, in denen ein sehr hoher Betreuungsschlüssel gilt. Beim Sozialtherapeutischen Wohnen kommt konzeptionell noch ein therapeutischer Ansatz hinzu. Dies kann auch auf die klassischen Heimformen übertragen werden. Wesentlich zur Vielfalt der Konzepte trägt die Bandbreite der vielen pädagogischen Richtungen und Ausbildungen bei.

Geschichte der Heimerziehung

Mittelalter und Neuzeit

Betsaal im Rauhen Haus (ca. 1845)

Die Heimerziehung in Deutschland entstand aus der Armenfürsorge im Mittelalter. Neben Kindern und Jugendlichen wurden in Armenhäusern Alte, Kranke und geistig Verwirrte versorgt. Armenhäuser waren z. T. geschlossene Anstalten. In der Neuzeit wurden zunehmend Waisenhäuser gegründet, die neben der reinen Versorgung auf die Erziehung verwaister und verwahrloster Kinder und Jugendlichen abzielten bspw. das „Rauhe Haus“ in Hamburg von Wichern.

Diese beiden Entwicklungslinien der Heimerziehung sind in der alten Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre erkennbar: Aus der Armenfürsorge entwickelten sich Fürsorgeerziehungsheime, in denen bis zu mehrere hundert Zöglinge unter strafvollzugsähnlichen Bedingungen getrennt nach Geschlechtern lebten. Hier wurden straffällige, sozial auffällige, geistig oder körperlich behinderte oder psychisch kranke Kinder und Jugendliche diszipliniert und aus dem öffentlichen Leben verbannt. In den Waisenhäusern entwickelten sich z. T. ambitionierte Konzepte zur Erziehung alleinstehender Kinder und Jugendlicher in alters- und geschlechtsgemischten familienähnlichen Gruppen. Die Zweiteilung fand schließlich in den 1920er Jahren ihren Niederschlag im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (vgl. Jugendwohlfahrtsgesetz), wo zwischen Fürsorgeerziehung und Hilfe zur Erziehung unterschieden wurde.

Nationalsozialismus

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Fürsorgeerziehungsanstalten zur Disziplinierung unliebsamer Elemente eingesetzt. Mangelnde Konformität wurde als Verwahrlosung interpretiert und mit Maßnahmen der Fürsorgeerziehung beantwortet/bestraft. Dies entwickelte sich zu einem System von Bewährung und Selektion, in dem die „Schwererziehbaren“, „Unerziehbaren“ oder sonstwie Marginalisierten übrigblieben und als Unbrauchbare definiert und behandelt wurden. Z. T. führten Einrichtungen der Fürsorgeerziehung selbst Selektionen von geistig und körperlich Behinderten durch. Dermaßen selektierte Kinder und Jugendliche konnten dann als „lebensunwert“ sterilisiert oder ermordet werden (vgl. Opfer der Rassenhygiene).

Nachkriegszeit

Ein evangelisches Kinderheim 1957 in Frankfurt

In der Zeit nach dem Krieg beschäftigten die ca. 3000 Heime und Anstalten häufig noch dasselbe Personal, das bereits während der Zeit des Nationalsozialismus dessen Erziehungskonzepte umgesetzt hatte. Immer wieder kam es zu willkürlichen und entwürdigenden Bestrafungen oder die Fürsorgezöglinge wurden eingesperrt. Sie waren rechtlos. Oft mussten sie gewerbliche Tätigkeiten ausüben, ohne dafür vergütet zu werden und ohne rentenversichert zu sein. Viele Jugendliche wurden auch an Bauern verliehen, um dort zu arbeiten. Den Bauern wurde dabei oft die Pflegschaft über die Kinder und Jugendlichen übertragen. Die Behandlung war oft menschenunwürdig. Die Jugendlichen wurden als billige Arbeitskraft gebraucht, da ein Pflegschaftsverhältnis kein Arbeitsverhältnis sein kann, weil es sich gegenseitig ausschließt. Eine berufliche Bildung kam ihnen dabei nicht zu Teil.[6] Viele der Missstände wurden dadurch möglich, dass die Heimaufsicht in dieser Zeit praktisch auf ganzer Linie versagte. Dies hatte strukturelle Gründe, denn Leistungserbringung und die Aufsicht darüber lagen in einer Hand bei ein und derselben Behörde.

1953 wurde das RJGW durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) abgelöst und 1961 novelliert. Die Zuständigkeit für die Heimaufsicht wechselte vom Bund auf die Länder. Obwohl verbesserte rechtliche Bedingungen geschaffen wurden, änderte sich die Lage der Kinder und Jugendlichen in der Fürsorge zunächst kaum. Das neue Recht verpflichtete Fürsorgeeinrichtungen und Pflegestellen auf das Kindeswohl. Pflegekinder durften nur noch zu häuslichen und familiären Arbeiten herangezogen werden, die ihren Kräften entsprachen und ihre körperliche, geistige und sittliche Entwicklung nicht beeinträchtigten.

Die Kritik an den ungeeigneten, herabwürdigenden und willkürlichen Erziehungsmethoden (vgl. Schwarze Pädagogik) wurde immer stärker. Durch Skandale, wie z. B. den sexuellen Missbrauch durch Erziehungspersonen, wurden die Missstände immer bekannter. Einer größeren Öffentlichkeit wurden die skandalösen Zustände in der Heimerziehung durch die „Heimkampagne“ der Studentenbewegung der 1960er-Jahre zugänglich gemacht. Hier engagierten sich auch Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die das Drehbuch für den Film Bambule schrieb, in dem die Missstände in den Heimen thematisiert wurden. In der so genannten „Heimrevolte“ flohen viele Jugendliche aus den Heimen und wurden von Studenten-Wohngemeinschaften aufgenommen oder sie wurden Trebegänger. Die Revolte führte zur Veränderung der Konzepte in der Heimerziehung und zur Entwicklung eines erweiterten Kanons der Hilfen zur Erziehung. Entsprechend benannte sich die „Internationale Gesellschaft für Heimerziehung“ in „Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen“ um[7][8].

Runder Tisch zur Aufarbeitung der Geschehnisse in der Heimerziehung

Ehemalige Heimkinder Demo April 2010
Ehemalige Heimkinder Kundgebung

Im November 2008 empfahl der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, einen Runden Tisch einzurichten, der die Geschehnisse in der Heimerziehung im westlichen Nachkriegsdeutschland unter den damaligen rechtlichen, pädagogischen und sozialen Bedingungen aufarbeiten sollte.[6] Der Petitionsausschuss erklärte, dass er das Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1975 widerfahren sei, sehe und erkenne und dass er es zutiefst bedauere.[9]. Nachdem sich der Deutsche Bundestag der Empfehlung angeschlossen hatte,[10] richtete die Bundesregierung den Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren unter dem Vorsitz der Bundestagsvizepräsidentin a.D. Dr. Antje Vollmer ein. Ihm gehörten Vertreter der ehemaligen Heimkinder an, ferner Vertreter des Bundestages, der Bundes und der Länder, der Jugendämter, der staatlichen, kirchlichen und nicht konfessionellen Träger der Erziehungsheime, beteiligt waren daneben Jugendinstitute und Wissenschaftler[11].

Der Runde Tisch sollte die Hinweise auf das Unrecht, das Heimkindern zugefügt worden ist, prüfen. Er sollte die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen (organischen oder psychischen) Folgen der Heimerziehungspraxis aufarbeiten und die Kommunikation zwischen den Betroffenen und den „Nachfolge“-Organisationen der damaligen Heimträger fördern sowie Kontakte zur individuellen Bearbeitung von Heimbiographien herstellen. Darüber hinaus sollte der Runde Tisch der Information ehemaliger Heimkinder dienen und psychologische, soziale oder seelsorgerische Beratungsangebote der beteiligen Institutionen und Organisationen an ehemalige Heimkinder bei Bedarf vermitteln. Schließlich sollten Kriterien zur Bewertung der Forderungen ehemaliger Heimkinder entwickelt werden und mögliche Lösungen aufgezeigt werden.[12]

Im Dezember 2010 legte der Runde Tisch seinen Abschlussbericht vor[13]. Darin wird aufgezeigt, dass in der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik die Rechte der Heimkinder durch körperliche Züchtigungen, sexuelle Gewalt, religiösen Zwang, Einsatz vom Medikamenten und Medikamentenversuche, Arbeitszwang sowie fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung massiv verletzt wurden. Dies sei auch nach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mit dem Gesetz und auch nicht mit pädagogischen Überzeugungen vereinbar gewesen. Als Verantwortliche für das den Heimkindern zugefügte Leid werden Eltern, Vormünder und Pfleger, Jugendbehördern, Gerichte, die kommunalen und kirchlichen Heimträger und das Heimpersonal und schließlich die hierzu schweigende Öffentlichkeit genannt.

Der Runde Tisch fordert, die Heimkinder zu rehabilitieren, indem die heutigen Repräsentanten der seinerzeit verantwortlichen Träger und der damals politisch Verantwortlichen das Unrecht anerkennen und um Verzeihung bitten, er fordert, dass regionale Anlauf- und Beratungsstellen als Stützpunkte für Geschädigte ehemaliger Heimerziehung eingerichtet werden. Er fordert darüber hinaus finanzielle Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffener, mit denen Hilfen zur Bewältigung von Traumatisierungen finanziert werden und finanzieller Nachteile, etwa bei der Rente ausgeglichen werden können. Er setzt sich auch dafür ein, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung und die Dokumentation der Missstände der Heimerziehung finanziell gefördert wird. Es solle ein Fonds für ehemalige Heimkinder eingerichtet werden, der durch die öffentliche Hand und durch die Heimträger mit insgesamt 120 Mio Euro dotiert werden solle. Schließlich müssten organisatorische und gesetzgeberische Initiativen ergriffen werden, um die Rechte heutiger Heimkinder noch besser zu garantieren. Der Abschlussbericht schließt mit einem Appell der Vorsitzenden an den Deutschen Bundestag und die Landesparlamente, die geforderten Maßnahmen zügig in die Tat umzusetzen.

DDR

Neben vielen normalen, international vergleichbaren Einrichtungen der Heimerziehung gab es in der DDR auch Einrichtungen der Jugendhilfe, die eher politisch als erzieherisch ausgelegt waren. Unter bestimmten Voraussetzungen kann wegen der Einweisung in ein DDR-Heim Rehabilitierung beantragt werden, an die sich soziale Ausgleichsleistungen knüpfen.

Siehe: Jugendwerkhöfe

Irland

Die Heimerziehung in Irland ist dort und weltweit seit den 1990er Jahren im Zusammenhang mit systematischen Missbrauch und Misshandlung tausender Kinder in Heimen bekannt geworden. Im Jahr 2000 wurde eine Kommission ins Leben gerufen die einen, nach juristischem Eingreifen anonymisierten Untersuchungsbericht vorlegte. Sie stellte 2009 fest: „Ein Klima der Angst, geschaffen durch umfassende, überzogene und willkürliche Strafmaßnahmen, durchzog die meisten dieser Institutionen.“ In den Schulen, die nur von Jungen besucht wurden war der sexuelle Missbrauch der Schüler dem Bericht zufolge durchgängig üblich. Mädchen wurden routinemäßig sexuell missbraucht. Sowohl der ehemalige irische Premierminister Bertie Ahern als auch Kardinal Seán Brady, Primas von Irland und Erzbischof von Armagh entschuldigten sich mehrmals öffentlich für jahrzehntelangen Missbrauch[14][15][16][17]. In Deutschland wurde der Skandal auch durch den Film Die unbarmherzigen Schwestern, der verschiedene Auszeichnungen erhielt bekannt. Er schildert die Misshandlungen in den maßgeblichen Magdalenenheimen (Magdalene Laundries „Magdalenen-Wäschereien“).

Großbritannien und Commonwealthländer

Im Februar 2010 bat der britische Premierminister Gordon Brown ehemalige Heimkinder für erlittenes Unrecht öffentlich um Entschuldigung. Hiebei stand insbesondere die Verschickung von Kindern aus Großbritannien in die britischen Kolonial-Gebiete im Mittelpunkt, was bis in die 1960er-Jahre hinein betrieben wurde.

In Australien und Kanada wurden in den vergangenen Jahren Wahrheitskommissionen gebildet zur Untersuchung der von den Behörden betriebenen Vorgänge, bei denen Kinder aus kanadischen Indianer- und australischen Eingeborenenfamilien ihren Eltern entzogen und in Heime gesteckt wurden.[18]

Rumänien

Internationales Aufsehen erregte das Thema Heimerziehung auch nach der politischen Wende 1989 in Rumänien und dem Bekanntwerden der schlechten Zustände in den Kinder- und Behindertenheimen dort. Zahlreiche ausländische und einheimische Initiativen nahmen ihre Arbeit auf, um den aus der Gesellschaft ausgestoßenen Kindern der rumänischen Heime eine neue Zukunft zu ermöglichen (siehe auch Cighid, Geschichte Rumäniens).

Österreich

Jenö Alpar Molnar, ehemaliger Heimzögling, klagt gegen das Land Oberösterreich wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte und wegen institutionalisierten Unrechts auf 1,6 Millionen Euro Schadensersatz.[19]

Im Oktober 2011 wurden von ehemaligen Zöglingen des Kinderheims Schloss Wilhelminenberg schwere Vorwürfe über systhematische körperliche Misshandlungen und Serienvergewaltigungen erhoben.

Kritik

Heimerziehung stand und steht immer wieder in der Kritik.

Einer der Kritikpunkte ist, dass das Verhalten des Kindes oder des Jugendlichen sich nicht nachhaltig gegenüber seinem ursprünglichen Umfeld ändert. Der junge Mensch werde eher „heimangepasst“, lerne also, sich in dem pädagogischen Umfeld zu behaupten, da starke Strukturen und konsequente Umsetzung von Erziehungsgrundsätzen dazu zwingen, so die Kritik. Wieder im familiären Kontext, in dem diese Strukturen oftmals nicht bestehen, gebe es keinen Grund mehr, das Erlernte umzusetzen – bzw. gute Gründe gerade dies nicht zu tun.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Problem nur beim Kind oder den Jugendlichen gesehen wird. Es wird zum „Symptomträger“ gemacht, wie es z. B. Familientherapeuten nennen. Statt dass die ganze Familie betrachtet wird, in der die Probleme entstehen, werde der betroffene junge Mensch zu einer Art „Sündenbock“, zum „Schuldigen“.

Zwar wird bei der Heimerziehung immer mehr auf Qualitätsmanagement gesetzt, bzw. gelten Pflegestandards, die unter staatlicher Kontrolle stehen, jedoch stehen im Erziehungsalltag nach wie vor durchschnittlich zwei oder drei Erzieher durchschnittlich acht Kindern/ Jugendlichen bei.

Im Zuge finanzpolitischer Reformen bzw. der Geldknappheit der öffentlichen Hand tritt Heimunterbringung gegenüber anderen Hilfeformen der Hilfen zur Erziehung teilweise zurück. Manche Kinder haben bereits die ganze Bandbreite der Jugendhilfe hinter sich, bevor die von Anfang an in Betracht gezogene Heimunterbringung erfolgt.

Ein System-Problem der Gewaltanwendung (unter Aufsicht des Jugendamtes) berichtet die Fachhochschule Dortmund aus Mai 2008 durch neueste Forschungen des Dekans, Prof. Dr. Richard Günder[20].

Literatur

1972 erschien der Jugendroman „Orte außerhalb“ des Schriftstellers Wolfgang Gabel, der das Schicksal eines Heimkindes behandelt. Der 2004 erschienene, nicht autobiografische Jugendroman „Heim“ der heimerfahrenen Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter beschreibt die vergebliche Flucht einiger Heimkinder. Günter kritisiert drastisch die Heimerziehung in Deutschland (ISBN 3-920110-27-7).

2001 erschien die autobiografische Erzählung „Misshandelte Zukunft“ von Harry Graeber. Graebers Schilderungen der eigentümlichen Heimwelt der Nachkriegsjahre und ihrer fragwürdigen Erziehungsmethoden sollen jedoch nicht als Anklage verstanden werden, sondern lediglich die autobiographische Situation wiedergeben. Neuauflage 2006 unter dem Titel „Misshandelte Zukunft – Erschütternder Erlebnisbericht eines Heimkindes im Nachkriegsdeutschland“ (ISBN 3-937624-60-0)

2006 ist das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski erschienen. In diesem Buch geht es um die bisher wenig öffentlichen Lebensbedingungen von Heimkindern in Deutschland in den Jahren 1950 bis 1970. Systematische Kinderarbeit sowie Prügel und Erniedrigungen bei geringsten Anlässen scheinen nach Aussagen des Buches eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein. Das Buch besteht zu großen Teilen aus Reportagen von ehemaligen Heimkindern, die mittlerweile 40 bis 60 Jahre alt sind (Deutschen Verlags-Anstalt, ISBN 3-421-05892-X).

2006 erschien auch das Buch „Heimerziehung. Lebenshilfe oder Beugehaft?“ von Alexander Markus Homes in einer Neuauflage mit dem Untertitel „Gewalt und Lust im Namen Gottes“, in dem er auch aktuelle Fälle von Missständen in kirchlichen Einrichtungen schildert (ISBN 3-8334-4780-X).

2009 erschien der Kriminalroman Kleine Aster von Moritz Wulf Lange, der unter anderem durch eine Rezension von Wensierskis Buch inspiriert wurde[21] und, neben anderen, auch das Motiv der Misshandlungen in Kinderheimen aufgreift. (Bloomsbury Berlin, ISBN 978-3-8270-0793-3).

2010 erschien das Buch Die ungeliebten Kinder. Endstation Heim? von Dagmar Wortham. Dieses Buch erzählt von den Zuständen in österreichischen Heimen, es schildert Schicksale von Heimkindern, den emotionalen Auswirkungen erlebter Traumata und der Hilflosigkeit der Betreuer auf Grund mangelnder Ausbildung und mangelnder Mittel hier speziell gegensteuern zu können und der daraus resultierenden Resignation auf beiden Seiten. [22] (Goldegg Verlag, Wien, ISBN 978-3-902729-03-3).

  • Andreas Völker: Stromzeit - Erinnerungen an das Kinderheim Schloss Beuggen. 2011, ISBN 978-3-942066-03-7.
  • Volker Rhein (Hrsg.): Moderne Heimerziehung heute - Beispiele aus der Praxis. 3 Bände; Frischtexte Verlag, Herne 2009/11, ISBN 978-3-933059-40-6.
  • Johann Lambert Beckers: Protokoll eines Heimkindes. Edition Beckers - Tatort: Dalheim Rödgen Kinderdorf St. Josef NRW

Dokumentarfilme

  • Die Unwertigen, Regie: Renate Günther-Greene, Deutschland 2009, 86 min

Siehe auch

Weblinks

http://www.rumpfs-paed.de/Heimerziehung/Einfuehrung.htm

 Commons: Orphanages in Germany – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien


Einzelnachweise

  1. KostenbeitragsV §7 und Empfehlungen zur Anwendung der §§ 91 bis 95 SGB VIII - 94.04.01.05 Mindestkostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes
  2. KostenbeitragsV
  3. § 5 KostenbeitragsV
  4. Empfehlungen zur Anwendung der §§ 91 bis 95 SGB VIII - 93.03.03 Ausführungen zu einzelnen Belastungen
  5. § 6 KostenbeitragsV in Verbindung mit der Tabelle in der Anlage
  6. a b Petitionsausschuss bedauert Leid ehemaliger Heimkinder
  7. homepage der igfh
  8. Studie: Kinder in kirchlichen Heimen misshandelt. NDR online. 15. September 2008
  9. Empfehlung des Petitionsausschusses vom 26. November 2008, Seite 12
  10. einstimmiger Beschluss des Deutschen Bundestages vom 4. Dezember 2008 Plenarprotokoll Tagesordnungspunkt 45 o, Drucksache 16/11102
  11. Verzeichnis der Mitglieder des Runden Tisches
  12. Homepage des Runden Tisches Heimerziehung + Zwischenbericht Januar 2009
  13. Abschlussbericht Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren
  14. http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,626099,00.html
  15. http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,626068,00.html
  16. „Brady calls for change of culture”, RTÉ News, 20. Oktober 2007
  17. „Primate urged Cardinal Connell to drop action”, The Irish Times, 12. Februar 2008
  18. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-135
  19. Humanistischer Pressedienst (online)
  20. Forschungen des Dekans, Prof. Dr. Richard Günder
  21. vgl. Moritz W. Lange: Kleine Aster. Bloomsbury, Berlin 2009, Nachwort S. 263.
  22. vgl. http://www.goldegg-verlag.at/goldegg/index.php?page=360, 23. Juni 2011

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