Pietismus

Pietismus

Der Pietismus ist nach der Reformation die wichtigste Reformbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus.

Die pietistische Bewegung in Deutschland hat seit ihrer Entstehung in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zahlreiche Veränderungen durchgemacht: Vom klassischen Pietismus der Barockzeit zum Spätpietismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts und beginnenden 19. Jahrhunderts über die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und die Gemeinschaftsbewegung bis zur evangelikalen Bewegung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die kirchenkritische Strömung innerhalb des Pietismus wird als Radikaler Pietismus umschrieben.

Inhaltsverzeichnis

Wortherkunft

Das Wort „Pietismus“ ist eine lateinisch-französisch-griechische Hybridbildung. Zum französischen Wort piété, das seinerseits wie das deutsche Wort „Pietät“ aus dem Stamm „pietat“ des lateinischen Wortes pietas („Pflichtgefühl“, „Frömmigkeit“) gebildet ist, tritt die Latinisierung der griechischen Endung „-ismós“ für intensivierte Denkhaltungen oder Ideologien. Es wird meist mit dem Hauptwerk von Philipp Jacob Spener Pia Desideria (1675) in Verbindung gebracht, aber Speners Erinnerung zufolge war das seit 1680 schriftlich dokumentierte Wort bereits um 1674 im Raum Frankfurt am Main eine spöttische Bezeichnung für „Frömmelei“.

Als positive Selbstbezeichnung hat erstmals der pietistische Leipziger Poesie-Professor Joachim Feller (1638–1691) das Wort „Pietist“ verwendet, beispielsweise im August des Jahres 1689 in dem Sonett auf den verstorbenen Leipziger Theologiestudenten Martin Born (1666–1689):

Es ist ietzt Stadt-bekannt der Nahm der Pietisten;
Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studirt /
Und nach demselben auch ein heilges Leben führt.

Im Oktober 1689 folgte Fellers Bekenntnis in dem Sonett auf den verstorbenen Leipziger Kaufmann Joachim Göring (1625–1689):

Ich habe jüngst gedacht / der hieß'gen Pietisten / […]
Ich selbsten will hiemit gestehen ohne Scheu /
Daß ich ein Pietist ohn Schmeich- und Heucheln sei.

In vergleichbar positivem Sinn bedeutet das Wort „Pietismus“ das Streben nach intensivierter, vertiefter Frömmigkeit.

Eigenart

Der Pietismus entsprang einem Gefühl der mangelhaften Frömmigkeit, unzureichender christlicher Lebensführung und dem Drang zur Verifizierbarkeit des persönlichen Glaubens. Theologisch reagiert er auf die Spannung und das Trauma des Dreißigjährigen Krieges durch Neuorientierung auf die Bibel bzw. die christlichen Traditionen.

Durch die im 18. Jahrhundert aufkommende Aufklärung gerieten die Vertreter des Pietismus ebenso wie die der altprotestantischen Orthodoxie sukzessive in die Defensive und verloren zunehmend an Einfluss. Die Aufklärer erschütterten das traditionelle Weltbild durch neue Erkenntnisse der Naturwissenschaft und stellten die traditionelle Theologie infrage. Die Theologie reagierte darauf mit einer zunehmenden Verwissenschaftlichung, wurde aber für die normalen Gemeindemitglieder immer unverständlicher. Außerdem verlangte der absolutistische Staat ein Bekenntnis zum offiziellen Dogma der jeweiligen Landeskirche, hielt aber persönliche Frömmigkeit eher für störend, sofern sie sich kritisch zur herkömmlichen Frömmigkeit stellte. Die Pietisten kritisierten beide Entwicklungen als rein äußerlich und stellen diesen ihr Ideal einer persönlichen, gefühlsbetonten Frömmigkeit entgegen.

Der Pietismus versteht sich als eine Bibel-, Laien- und Heiligungsbewegung. Er betonte die subjektive Seite des Glaubens, entwickelte aber auch einen starken missionarischen und sozialen Grundzug. In der pietistischen Praxis haben Konventikel (heute: Hauskreise) mit gemeinsamem Bibelstudium und Gebet oft eine ähnlich große oder größere Bedeutung als Gottesdienste.

Der heutige Pietismus bekennt sich in vielen seiner Ausprägungen zur Irrtumslosigkeit (Bibeltreue) bzw. gemäßigter zur Widerspruchsfreiheit oder zum für Heilsfragen hinreichenden Charakter der Heiligen Schrift und lehrt hieraus resultierend seit dem Spätpietismus eine konservative Theologie.

Außerdem betont er das Priestertum aller Gläubigen. Neben Theologen wurden und werden auch Laien ohne akademische Bildung – vorrangig Männer – als Prediger geschätzt: so bis heute als Redner, „redende Brüder“, in den Hauskreisen („Stunden“, das heißt Erbauungsstunden/ Bibelbesprechstunden).

Programmatisch hat Zinzendorf dies zum Ausdruck gebracht:

„Gesegnet sei die Gnadenzeit,
In der auch ungeübte Knaben
Befehl und Macht erhalten haben
Zu werben für die Seligkeit.“

Die heutigen pietistische Gruppen werden oft zu den Evangelikalen gerechnet, da die Pietisten die Gemeinsamkeiten von Evangelikalen weitgehend teilen.[1]

Historische Entwicklung

Reformbewegungen im Vorfeld des Pietismus

Der Pietismus ist durch zahlreiche Bewegungen und den in ihnen virulenten Anschauungen entscheidend beeinflusst worden. Ausgangspunkt dieser Bewegungen sind die empfundenen Schwierigkeiten der Verwirklichung des Glaubens im Leben der Kirchen (der Reformation). Es sind die Fragen nach persönlicher Frömmigkeit, eines christlichen Lebens und den daraus entstehenden Konsequenzen für das Wesen der Kirche, auf die in diesen Bewegungen Antworten gesucht wurden.

Aus dem deutschen Bereich sind es vor allem die Schwenckfeldianer, die Täufer, Paracelsus, Valentin Weigel, Jakob Böhme, Christian Hoburg und deren Anhänger und mystisch-spiritualistische Gesinnungsgenossen, die die Frage nach dem 'wahren Christentum' wachhielten und den aufrichtigen Christen in den Kirchen stellten. Johann Arndt hat in besonderer Weise durch sein Erbauungsbuch „Vier Bücher vom wahren Christentum“ die Anschauungen von Kirchenvätern, der spätmittelalterlich Mystik, Thomas von Kempen, Paracelsus und Valentin Weigel vermittelt. Damit hat Arndt eine Synthese von Luthertum, Mystik, Alchemie, und Spiritualismus vollzogen. Die Auseinandersetzungen um seine weit verbreitenden Erbauungsbücher zeigen, dass seinen Kritikern die Aufnahme heterodoxer Gedanken bei Arndt durchaus bewusst war. Einen wichtigen Fürsprecher fanden die Frömmigkeitsimpulse Arndts in Johann Gerhard.

Die Frömmigkeitsbewegung innerhalb der lutherischen Kirchen hat auch dem Pietismus den Weg bereitet. Herausragende Vertreter sind unter anderem Johann Gerhard, Andreas Musculus, Stephan Prätorius, Philipp Nicolai, Johann Valentin Andreae und Theophil Großgebauer.

Wichtig und nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss, den der englische Puritanismus durch die Verbreitung seiner Erbauungsbücher und theologischen Abhandlungen auf den Pietismus der Barockzeit hatte. Ebenso beeinflusste auch die niederländische Nadere Reformatie den Pietismus, in besonderer Weise den reformierten Pietismus, denn die reformierten Kirchen im Deutschen Reich hatten ein intensives Beziehungsgeflecht zu ihren Schwesterkirchen in den Niederlanden.

Reformierter Pietismus von 1660–1780

Als „Vater“ des reformierten Pietismus gilt Theodor Undereyck (1635–1693). Während seines Studiums in Utrecht wurde er für die Anliegen und die Frömmigkeit der Nadere Reformatie gewonnen. Von 1660 bis 1668 wirkt er als Pfarrer in Mülheim an der Ruhr. Er führte ein Presbyterium ein und band die Gemeinde in die synodale Struktur der Duisburger Classis ein. Hausvistationen, Katechismusunterricht, Katechismuspredigten und Kirchenzucht rundeten sein Reformwerk in Mülheim ab. Seine Predigten stellten die Wiedergeburt und die persönliche Heilsaneigung heraus. Als der Graf von Daun-Falkenstein gegen Undereyck in die Angelegenheiten der Kirchengemeinde eingriff, verließ er seinen bisherigen Wirkungskreis und ging als außerordentlicher Hofprediger nach Kassel. 1670 nahm er einen Ruf nach St. Martini (Bremen) an. Dort wirkte er bis zu seinem Tod 1693 im Sinne des Pietismus. Er richtete unter anderem katechetische Übungen im Pfarrhaus ein, wie überhaupt die Stärkung des Katechismusunterrichtes eines seiner wichtigen Anliegen war. Außerdem setzet er sich für die Einführung der Kirchenzucht ein. Undereyck konnte einige seiner Gesinnungsgenossen und Schüler auf Bremer Pfarrstellen bringen. Bremer Studenten verbreiteten die Anliegen des Pietismus in die reformierten Kirchen ihrer Heimat.

Wohl am Ende seines Wirkens in Mülheim an der Ruhr entstanden dort ohne Mitwirkung Undereycks Hausversammlungen, in denen man Undereycks Predigten besprach. Am Niederrhein kamt es in der Auseinandersetzung mit dem Labadismus 1674 zu einer Regelung von „Zusammenkünften zur Gottseligkeit“ (Konventikel), aber auch zu Radikalisierungen. So wurde der Pfarrer Samuel Nethenus wegen seiner als überzogen empfundenen Abendmahlszucht und seinen Eigenmächtigkeiten abgesetzt. Ebenso wurde der Pfarrer Reiner Copper aus dem Dienst entlassen. Er schloss sich später den Labadisten an.

Durch Schüler Undereycks konnten pietistische Ideen im 17. Jahrhundert in Ostfriesland und Lippe-Detmold Fuß fassen. Im 18. Jahrhundert fanden pietistische Anschauungen in fast allen reformierten Landeskirchen Eingang. Als einziger bedeutender Theologe des reformierten Pietismus ist Friedrich Adolf Lampe (1683–1709) zu nennen.

Eine eigene Entwicklung nahm der Pietismus am Niederrhein. Unter Wilhelm Hoffmann (1676–1746) entwickelten sich in Mülheim an der Ruhr und anderen Orten nebenkirchliche Konventikel. Hoffmanns bedeutendster Mitarbeiter wurde Gerhard Tersteegen (1697–1769), der diese Versammlungen nach dem Tod Hoffmanns weiterführte. Durch seine Schüler wurde sein Erbe in der reformierten Kirche aufgenommen. Er gilt mit Joachim Neander als bedeutendster pietistischer Liederdichter aus dem Bereich der deutschen reformierten Kirchen.

In der Schweiz kamen pietistische Bestrebungen innerhalb der reformierten Landeskirchen Ende des 17. Jahrhunderts auf. Nachdem die Bewegung durch obrigkeitliche Verbote als innerkirchliche Reformbewegung gescheitert war, radikalisierte sie sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Erst ab 1720 gelang es durch das Wirken pietistischer Pfarrer ein Heimatrecht in der Kirche zu erlangen. Es kam zu den Gemeinschaftbildungen unter pietistischen Laien, den Heimberger Brüdern und der Luzerner Bibelbewegung, letztere wurde jedoch obrigkeitlich verfolgt.

Lutherischer Pietismus von 1670–1780

Die zentrale Gründerpersönlichkeit des lutherischen Pietismus ist der Elsässer Philipp Jacob Spener (1635–1705). Es gibt kaum ein lutherisches Territorium im Deutschen Reich, zu dem er keine Beziehungen hatte. Als Programmschrift des lutherischen Pietismus gilt Speners 1675 erschienenes Werk Pia desideria (Fromme Wünsche), in dem er zum einen den Zustand der gegenwärtigen Kirche und ihrer Glieder beklagt und zum anderen ein Reformprogramm entwickelt: Einführung von Versammlungen zur Verbesserung der Bibelkenntnis, Mitarbeit der „Laien“ in der Kirche, Verlagerung vom Glaubenswissen zur Glaubenstat, Einschränkung der konfessionellen Polemik, Reform des Theologistudiums hin zur praxis pietatis, Verlagerung der Predigtinhalte vom Glaubenswissen zur Erbauung des inneren Menschen.

1670 kamen einige Männer auf Spener zu mit der Bitte um erbaulichen Austausch in besonderen Zusammenkünften, die bald als Collegium pietatis oder Exercitium pietatis bezeichnet wurden. Spener veranstaltete sie in seinem Pfarrhaus. Aus ihnen entwickelte sich die Erbauungstunde bzw. Bibelstunde als die für den Pietismus bis heute charakteristische Veranstaltungsform. Sie werden bis heute in Württemberg und anderen Gegenden „Stunden“ genannt. Deren Besucher werden im Schweizerdeutschen „Stündeler“ genannt und im Russischen entstand im 19. Jahrhundert der Ausdruck штундист (Stundist) für „Sektenmitglied“. In diesen Konventikeln war die Gefahr der Separation virulent. Zu den bedeutendsten Gestalten dieses von Spener geleiteten Collegium gehörte Johann Jakob Schütz, der sich später tatsächlich von der Kirche separierte und zur Gefahr für die Akzeptanz dieses Reformpunktes innerhalb der lutherischen Kirche wurde.

Neben der Einführung der Collegia pietatis war Speners Hoffnung besserer Zeiten für die Kirche brisant, die chiliastische Vorstellungen in die lutherischen Kirche einbrachte. Ebenso bringt er das Ideal des Urchristentums in die Diskussion um die Reform der Kirche ein.

Bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der lutherischen Orthodoxie und des Pietismus. Die orthodoxen Gegner warfen den Pietisten unter anderem die Aufnahme heterodoxer Anschauungen und Praktiken vor, die Störung der Kirchenordnungen durch die Konventikel und andere Neuerungen, die Spaltung der Gemeinden und den Hang zum Perfektionismus.

Der Pietismus wies den Gläubigen eine eigenständige religiöse Autorität zu. Zudem förderte er die Individualisierung der Persönlichkeit, indem er die persönliche Glaubensüberzeugung in den Mittelpunkt rückte. Auch die Lesefähigkeit wurde durch das Lesen und Hören der oftmals nicht einfachen Texte aus den Erbauungsbüchern stimuliert.

Eines der volksnahesten und verbreitetsten Gebetsbücher ist das „Tägliche Handbuch in guten und in bösen Tagen“ von Johann Friedrich Starck, das noch 1999 eine neue Auflage erlebte – wahrscheinlich nicht die letzte.

Ein Teil der Pietisten radikalisierte sich – in der Regel durch den Einfluss des spiritualistischen Erbes der Bewegung. Sie separierten sich meist von der Kirche. Spener blieb jedoch meist mit ihnen in freundlichem, manchmal auch kritischen Kontakt.

Zu einem Umbruch in der pietistischen Bewegung kam es 1689/90 in Leipzig, als die seit 1686 eingeführten Collegia biblica für Theologiestudenten aus dem Rahmen der Universität heraustraten und Teile der Stadtbevölkerung ergriffen. August Hermann Francke war einer der Führer dieser Bewegung.

Unter den Württemberger Theologen konnte Spener einige Anhänger gewinnen. Ebenso gelang es ihm in Hessen-Darmstadt, wichtige Stellen am Hof und der Universität Gießen mit Pietisten zu besetzen. Durch sein Wirken als Propst in Berlin (1691–1705) konnte Spener, unterstützt durch das aufstrebende Kurfürstentum Brandenburg, eine erfolgreiche pietistische Personalpolitik in der lutherischen Kirche Brandenburgs betreiben.

Pietisten brachten auch diakonische, soziale und pädagogische Impulse ein – manchmal durch eine Reform der öffentlichen Armenversorgung und des Schulwesens, ein anderes Mal durch die Gründung eigener Anstalten, unter denen wohl die Waisenhäuser die bekanntesten sind.

Halle

Der Hallische Pietismus geht auf Philipp Jacob Spener (1635–1705) zurück, einen der Gründer der Universität Halle. Speners bekanntester Schüler, der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke (1663–1727), wurde als Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an die neugründete Universität und als Pfarrer des Vorortes von Halle, Glaucha, berufen. Er ist Begründer des Waisenhauses in Halle an der Saale, aus dem umfangreiche pädagogische und wissenschaftliche Anstalten mit vielen verschiedenen Zweigen hervorgingen (Franckeschen Stiftungen). Mit Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719) gründete er die Cansteinsche Bibelanstalt, die älteste Bibelgesellschaft der Welt. Die von Francke begonnene Dänisch-Hallesche Mission entsandte die ersten evangelischen Missionare nach Indien, Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau. Halle wurde zum wichtigsten Zentrum des lutherischen Pietismus, neben dem aber auch viele andere Zentren in und außerhalb Deutschlands entstanden. So bekam der Hallische Pietismus während der Regierung Christian VI. in Dänemark, Norwegen und den mit ihm verbundenen Herzogtümern Schleswig und Holstein starken Einfluss auf die Kirche. Seine Ausstrahlung war international.

An der Universität Halle kam es zur Auseinandersetzung zwischen Christian Thomasius, einem Philosophen der Frühaufklärung, und Francke, aus der der Pietismus noch als Sieger hervorging. In der Auseinandersetzung mit Christian Wolff konnte Francke zwar erreichen, dass dieser des Landes verwiesen wurde, aber den (Hallischen) Pietisten fehlte das philosophische und theologische Format zu einer fruchtbaren akademischen Auseinandersetzung mit der Aufklärung. Sich selber sahen die Hallischen Pietisten als die eigentlichen Vertreter lutherischer Orthodoxie und traten mit diesem Selbstbewusstsein gegenüber ihren Kritikern aus den Reihen der altprotestantischen Orthodoxie auf.

Nach dem Tod August Hermann Franckes rückte sein Sohn Gotthilf August Francke in den Mittelpunkt des Hallischen Pietismus. Die Unternehmungen Halles behielten noch vier Jahrzehnte eine größere Ausstrahlung, besonders in Brandenburg-Preußen und in Mitteldeutschland. Hier sind zu nennen die pädagogischen Einrichtungen, das Engagement in der Mission, die Betreuung der deutschen Auswanderer in Nordamerika und die Hilfe für die evangelischen Salzburger, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Die pietistische Theologie an der Universität Halle konnte sich jedoch gegen die Aufklärung nicht halten. Der Hallische Pietismus endet, bis auf wenige Ausläufer, mit dem Tod von Gotthilf August Francke (1769). Die Aufklärung bestimmte nun in der Regel die Theologie in den Gebieten, in denen der Hallische Pietismus bisher großen Einfluss hatte.

Württemberg

Das so genannte „Fünf-Brüder-Bild“, ein Portrait von Persönlichkeiten des württembergischen Pietismus; von links nach rechts: Johannes Schnaitmann, Anton Egeler, Johann Martin Schäffer, Immanuel Gottlieb Kolb, Johann Michael Hahn.

Als besonders pietistisch geprägt gilt neben Westfalen das Gebiet des einstigen Herzogtums bzw. Königreichs Württemberg. Auch dort wurden pietistische Bestrebungen von der lutherischen Orthodoxie abgelehnt, und wenn etwa Studenten des Tübinger Stifts (das Internat der württembergischen Theologiestudenten) ein pietistisches Konventikel besuchten, führte das zu Untersuchungen. Trotzdem gab es auf beiden Seiten immer auch Personen, die für das Anliegen der jeweils anderen Verständnis hatten.

Schon in der ersten pietistischen Generation gab es Pietisten in kirchenleitenden Organen. Der Bedeutendste ist Johannes Andreas Hochstetter (1637–1720). Er setzte sich für einen echten Katechismusunterricht und die Einführung der Konfirmation ein, was aber erst 1722 verwirklicht wurde. Nachsichtig, wie die meisten kirchlichen Pietisten, gingen dessen Vertreter mit radikalen Anhängern des Pietismus um. Dies provozierte Auseinandersetzungen mit den orthodoxen Vertretern in der Kirchenleitung und Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Bis etwa 1730 war die pietistische Bewegung in großen Teilen in radikalem Fahrwasser.

1743 bekamen die pietischen Konventikel eine rechtliche Anerkennung durch das „Generalreskript betreffend die Privatversammlungen der Pietisten“. In ihnen durften jedoch keine heterodoxen und separatistischen Anschauungen verbreitet werden. Dies beförderte die Konsolidierung des Pietismus in Württemberg.

Die prägendste Gestalt des württembergischen Pietismus war Johann Albrecht Bengel (1687–1752), der mit seiner biblizistischen, heilsgeschichtlich orientierten Theologie einen großen Teil des Pfarrernachwuchses Württembergs prägte. Bedeutende Schüler waren der Pfarrer und Liederdichter Philipp Friedrich Hiller (1698–1769), der Tübinger Theologieprofessor Jeremias Friedrich Reuß (1700–1777), der eine ganze Generation württembergischer Pfarrer geprägt hat, Johann Christian Storr (1712–1773), der bis in die Kirchenleitung aufstieg, und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), der viele weitere Traditionen in seine originelle Theologie aufnahm und mit dieser wiederum prägend für den württembergischen Pietismus wurde. Ähnliches gilt für Philipp Matthäus Hahn (1739–1790). Unter den Laien ist Johann Michael Hahn (1758–1819) als einflussreicher Denker und Gründer der bis heute existierenden Hahn'schen Gemeinschaften zu nennen. Ebenso existieren heute noch die Pregizier Gemeinschaften, die auf das Wirken des Pfarrers Christian Gottlob Pregizer (1751–1824) zurückgehen. Wichtige „Väter“ des württembergischen Pietismus wie Michael Hahn, Johann Albrecht Bengel und Friedrich Christoph Oetinger vertraten die Allversöhnung (apokatastasis).

Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Auswanderungswelle von Pietisten nach Bessarabien, der Krim, dem Wolgagebiet und Kaukasien aufgrund eschatologischer Spekulationen und Neuerungen in der gottesdienstlichen Agende. Um dem entgegenzutreten, kam es zur Gründung der beiden pietistischen Gemeinden Korntal (1819)[2] und Wilhelmsdorf (Württemberg) (1824)[3], die mit kirchlichen Sonderrechten ausgestattet wurden.

Auf dieser Basis konnten sich die Pietisten innerhalb der Landeskirche engagieren, weshalb es dort bis heute noch eine starke pietistische Strömung gibt. Noch immer stellen die Pietisten des Gesprächskreises „Lebendige Gemeinde“ die größte Gruppierung in der württembergischen Landessynode. Allerdings ist der Einfluss des Pietismus gerade in diesem Land häufig überschätzt worden, weil man allgemeine Verhaltensweisen ungeprüft pietistischen Einflüssen zuschrieb.

Das Verhältnis zwischen Pietisten und Nicht-Pietisten innerhalb der evangelischen Landeskirche ist trotz eines grundsätzlichen Verständnisses auch in Württemberg teilweise spannungsvoll, was sich in der Vergangenheit zeigte, wenn sich die Gesprächskreise der Synode nur schwer auf einen Landesbischof einigen konnten. Bei der letzten Bischofswahl 2005 verzichtete die „Lebendige Gemeinde“ allerdings auf einen eigenen dezidierten Kandidaten, so dass Bischof Frank Otfried July im ersten Wahlgang gewählt werden konnte. Darin zeigt sich eine Annäherung zum Gesprächskreis Evangelium und Kirche, der in der Vergangenheit mit dem eher links-protestantischen Gesprächskreis Offene Kirche zusammenarbeitete.

Bekannte württembergische Pietisten waren

Herrnhuter Brüdergemeine

Die Entstehung und Entwicklung der Herrnhuter Brüdergemeine ist untrennbar mit ihrem Gründer Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700–1760) verbunden. Zinzendorf wuchs bei Großmutter Henriette Catharina von Gersdorff auf. Sie vertrat ein überkonfessionelles, philadelphisches Christentum, obwohl sie sich immer mit der lutherischen Kirche verbunden wusste. Ihre Gedankenwelt hat Zinzendorf und mit ihm die Brüdergemeine tief geprägt, ebenso wie die Frömmigkeit seiner Tante Henriette von Gerdorf, die ihm im täglichen Gebet den „Umgang mit dem Heiland“ gelehrt hat.

Im Alter von 10 Jahren kam Zinzendorf auf das Hallische Pädagogium regnum. Zwar erhielt er durch den hallischen Pietismus Anregungen, doch blieb er später auf Distanz zu der dortigen Frömmigkeit des Bußkampfes und des Heiligungsernstes. Er musste ein Jurastudium in Wittenberg aufnehmen und setzte sich in dieser Zeit für einen Ausgleich zwischen lutherischer Orthodoxie und dem Hallischen Pietismus ein.

1722 erlaubte er evangelischen Flüchtlingen aus Mähren die Ansiedlung auf seinem Gut Bertheldorf in der Oberlausitz. Sie waren Nachfahren der böhmischen Brüderunität, die im 30-jährigen Krieg fast vollständig untergegangen war. Im weiteren Verlauf siedelten sich auch Schwenckfeldianer aus Schlesien, Pietisten, Separatisten, Lutheraner und Reformierte an. Seit 1724 wird diese Siedlung Herrnhut genannt. Es gelang, aus den Siedlern mit ihren unterschiedlichen Traditionen eine völlig neue Kirchengemeinschaft zu kreieren. Durch die Berufung darauf, dass man die alte Brüderunität erneuert habe, ermöglichte man es, im Bereich des Luthertums zu bleiben. In Herrnhut blühte das religiöse und liturgische Leben in großer Vielseitigkeit auf.

Herrnhut wurde zum Ausgangspunkt einer intensiven Diasporaarbeit im Deutschen Reich, den Niederlanden und der Schweiz. Binnen weniger Jahre entwickelte sich ein dichtes Netz von Freundeskreisen und Tochtergemeinen. Ebenso wurde Herrnhut zum Zentrum der Heidenmission, aus der eigene Kirchen in den ehemaligen Missionsgebieten hervorgegangen sind.

Nach anfänglichen Berührungspunkten mit der aufkommenden methodistischen Erweckungsbewegung in England kam es jedoch zur Abgrenzung zwischen Brüdergemeine und Methodismus. Der kontinentaleuropäische Pietismus und der Methodismus haben sich jedoch im weiteren Verlauf beider Bewegungen gegenseitig befruchtet.

Nach dem Tod Zinzendorfs näherten sich die Brüdergemeinen der herkömmlichen lutherischen Theologie weiter an. Sie bekannten sich weiterhin zur Confessio Augustana als ihrem Bekenntnis. Mit allen anderen Kindern Gottes wusste man sich jedoch weiterhin im gemeinsamen Herzensglauben verbunden, über alle Konfessionsgrenzen hinweg.

Die Diasporaarbeit der Brüdergemeine betreute erweckte Christen aller Kirchen durch ihre Sendboten. Erweckte wurden im Zeitalter der Aufklärung und des theologischen Rationalismus in ihrer an der Bibel ausgerichteten Frömmigkeit gestärkt. Damit bildet die Diasporaarbeit eine wichtige Brücke zwischen dem Pietismus der Barockzeit und den Anfang des 19. Jahrhunderts beginnenden Erweckungbewegungen innerhalb der evangelischen Kirchen. Die Zusammenkünfte der Diasporageschwister wurden in einigen Regionen durch Konventikelverbote oder andere Beschränkungen behindert.

Die Predigerkonferenzen der Gemeine waren eine Möglichkeit für Geistliche der evangelischen Landeskirchen, sich zu beraten und theologisch von Rationalismus und Neologie abzugrenzen.

Der Spätpietismus zwischen 1780 und 1820

Der Pietismus dieser Zeit steht in vielfältigem Zusammenhang mit dem Pietismus des Barock, unterscheidet sich jedoch von ihm. Er ist sich in ganz anderer Weise seiner Gegnerschaft zur Aufklärung bewusst. Er ist beeinflusst vom Sturm und Drang und der Romantik. Noch stärker als der frühere Pietismus liegt die Betonung auf der Individualität und der Pflege der Gefühlskultur.

Die Erweckten sammelten sich hauptsächlich in der Deutschen Christentumsgesellschaft und der Herrnhuter Brüdergemeine mit ihrer Diasporaarbeit. Einzelne Persönlichkeit haben den Pietismus dieser Zeit stark beeinflusst, auch wenn sie nicht immer als Pietisten bezeichnet werden können: Johann Kaspar Lavater, Johann Friedrich Oberlin, Johann Heinrich Jung-Stilling und Matthias Claudius.

Die Sendboten der Brüdergemeine besuchten die Kreise der Erweckten und stärkten sie in ihrem Glauben. Dies taten sie nur, wenn der Ortsgeistliche der Landeskirche davon Kenntnis hatte oder dies sogar unterstützte. Diese Erweckten trugen auch die entstehenden Missionsgesellschaften und Bibelgesellschaften.

Die Deutsche Christentumsgesellschaft in Basel vernetzte ebenfalls Kreise von Erweckten. Ihr Gründer und Förderer war Johann August Urlsperger, der mit ihr die Auseinandersetzung mit der Aufklärung und Neologie führen wollte. Diese Zielsetzung wurde jedoch nicht aufgenommen, aber ein Netzwerk von Gleichgesinnten aufgebaut. In und außerhalb Deutschlands gründeten sich zahlreiche Tochtergesellschaften. Konfessionelle Unterschiede spielten kaum eine Rolle. Es wurde eine Traktatgesellschaft gegründet, die erbauliches Schrifttum vertrieb. 1804 wurde die Basler Bibelgesellschaft gegründet und 1815 von Christian Friedrich Spittler die Basler Mission. Wichtige Impulse empfing man aus England.

Zu der/den aufkommenden Erweckungsbewegung(en) nach 1815 bestanden vielfältige Beziehungen. Zum großen Teil knüpften diese an die Arbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Christentumsgesellschaft mit ihren Tochtergesellschaften an bzw. wurden von diesen Kreisen unterstützt.

Die Erweckungsbewegung(en) des 19. Jahrhunderts

Die Initialzündung der Erweckung im Deutschen Reich ist der Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Napoleon Bonaparte. Viele sahen darin das Eingreifen Gottes in die Geschichte. In dieser Stimmung gelang es der erweckten Juliane von Krüdener den russischen Zaren, den Kaiser von Österreich und den preußischen König zur Gründung der Heiligen Allianz zu bewegen. Eine ähnliche religiöse Hochstimmung konnte beim Wartburgfest und der Dreihundertjahrfeier der Reformation erlebt werden. Zwar nahm dieses religiöse Hochgefühl ab, doch die Frömmigkeit der Erweckung gewann immer mehr Anhänger. Rückhalt hatte die erweckte Theologie durch Friedrich Wilhelm III. In Berlin waren es der Pfarrer Johann Jänicke (1748–1827) und Baron Hans Ernst von Kottwitz (1757–1843), die die Erweckungsbewegung durch ihr missionarisches und soziales Engagement voranbrachten, aus dem die Preußische Hauptbibelgesellschaft, die Berliner Missionsgesellschaft, ein Traktatverein und eine „Freiwillige Beschäftigungs-Anstalt“ hervorgingen. Sie fanden viele – auch einflussreiche – Anhänger. Ebenso förderten Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. die Erweckung und die Innere Mission.

In den ersten eineinhalb Jahrzehnten spielten die konfessionellen Unterschiede innerhalb der aufkommenden Erweckungsbewegungen kaum eine Rolle. Dies änderte sich mit der Rückbesinnung auf ältere kirchliche Traditionen. Große Teil der Erweckungsbewegungen bekamen eine konfessionelle, teilweise auch konfessionalistische Ausrichtung, die die Unionsbestrebungen innerhalb des deutschen Prostestantismus ablehnten. Unter dem Eindruck der Revolution 1848 gelang es Johann Hinrich Wichern (1808–1881) für sein Programm einer Inneren Mission mit ihren diakonischen Einrichtungen Aufmerksamkeit und Unterstützung weiter Kreise zu gewinnen.

Neuartige Anregungen empfing die Erweckungsbewegung seit 1875 aus dem angelsächsischen Bereich. In Folge dieser Entwicklungen kam es zur Gründung des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes.

Es entstanden unter anderem Erweckungsbewegungen im Siegerland, in Wuppertal, in Wittgenstein, im Biedenkopfer Raum (Hessisches Hinterland), im Oberbergischen, in Minden, im Ravensberger Land, in Ostpreußen und in Pommern, die als „Neupietismus“ bezeichnet werden. In einigen dieser Gebiete führte die Bewegung von Wuppertal aus zur Gründung von Freien evangelischen Gemeinden. Aber auch in der Schweiz gab es eine starke pietistische Bewegung, die Evangelische Gesellschaft des Kantons Bern, die von Karl Stettler-von Rodt gegründet wurde und in der jahrelang Franz Eugen Schlachter, der Übersetzer der Miniaturbibel, als Prediger arbeitete. Die pietistische Durchdringung der Basler Großbürgerschicht wurde als „Frommes Basel“ sprichwörtlich. Unter den in der Ukraine und Russland siedelnden deutschsprachigen Mennoniten entstanden ab 1860 die vor allem vom Erweckungsprediger Eduard Wüst beeinflussten Mennonitischen Brüdergemeinden.

Der Neupietismus setzt im Gegensatz zum klassischen Pietismus auf eine stärkere Ausrichtung auf Lehre (Dogmatik) und Verkündigung (Evangelisation / Mission), die teilweise zu Lasten der karitativen und diakonischen Tätigkeiten geht.

Seit den 1970er Jahren ist das Wort pietistisch zunehmend von dem Wort evangelikal verdrängt worden.

Wirkung

Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung des Pietismus für die deutsche Literatur in der Epoche der Aufklärung. Pietisten waren gehalten, ihr Inneres genau zu beobachten und ein etwaiges Erweckungserlebnis im Kreise der pietistischen Brüder und Schwestern zu berichten. Dies führte zu einem sensibleren Umgang mit seelischen Entwicklungen, den sich Schriftsteller zum Vorbild nahmen, wodurch auch in der Literatur das Innenleben der Helden größere Bedeutung gewann. Ein Beispiel für das Zusammenspiel von Pietismus, Psychologie und Literatur ist Karl Philipp Moritz' Roman „Anton Reiser“. GoethesWilhelm Meister“ diskutiert im 6. Buch der Lehrjahre („Die Bekenntnisse einer schönen Seele“) unter anderem den Pietismus Zinzendorfs und der Herrnhuter, mit dem er sich in seiner Jugend stark auseinandergesetzt hatte.

Auch das soziale Engagement des Pietismus (unter anderem die daraus erwachsenen Diakonissenanstalten und Sozialwerke) hat nachhaltige Veränderungen in Gesellschaft und Politik hervorgerufen. Viele soziale Anstalten (Waisenhäuser, Krankenhäuser), die heute vom Staat geführt werden, sind auf den Pietismus zurückzuführen.

Die heutigen Bibelgesellschaften gehen auf die pietistische Cansteinsche Bibelanstalt zurück, die erstmals das Anliegen umsetzte, die Bibel nicht nur im Sinne Luthers allgemein verständlich, sondern durch Einführung des Stehsatzes auch für jeden erschwinglich zu machen.

Prägende Kraft übte der Pietismus zusammen mit den ihm verwandten Bewegungen des Puritanismus, der Nadere Reformatie und des Methodimus auf den Prostestantismus der USA aus.

Kritik am Pietismus

An Kritik an pietistischen Lehrinhalten und pietistischer Frömmigkeitspraxis hat es zu keiner Zeit seit seiner Entstehung gemangelt. So hat etwa Hermann von Pückler-Muskau aus eigener Erfahrung von einer „herrenhutischen Heuchelanstalt“ gesprochen.

Vor allem aus Kreisen der dialektischen Theologie wurde eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Pietismus geboten. Hauptkritikpunkt war dabei, dass sich die Pietisten auf die Widerspruchsfreiheit der Bibel beriefen, während Vertreter der dialektischen Theologie dies nicht glaubten.

So hat der Berliner Theologe Dietrich Bonhoeffer den Pietismus als letzten Versuch bezeichnet, den christlichen Glauben als Religion zu erhalten (Widerstand und Ergebung). Bei seiner negativen Beurteilung der Religion – er wurde gleichsam als Gegenbegriff zur Offenbarung Gottes angesehen – wiegt diese Kritik schwer. Ebenso verwarf Bonhoeffer gerade als biblisch-reformatorischer Theologe das Grundanliegen des Pietismus, beim Menschen eine „erwünschte Frömmigkeit“ erwirken zu wollen.

Außenstehende Christen wie auch Nichtchristen kritisieren an Pietisten, dass diese sich zu sehr auf die eigene geistliche Entwicklung konzentrierten (die Kritiker sehen die Gefahr eines „Heils-Egoismus“), weswegen sie der Verantwortung des Menschen in der Gesellschaft nicht gerecht werden könnten. Diese Kritik lässt sich unter dem Begriff der Subjektivismuskritik zusammenfassen, z.B.: In „der Religionsphilosophie behandelt Hegel den Pietismus parallel zur Aufklärung und vermutet in ihm „die Spitze dieser Subjektivität“.[4] Gegen diese Kritik spricht auch das oben angeführte soziale Engagement des Pietismus, welches oftmals ebenfalls ein missionarisches (= sozial-missionarisches) war. So stellt sich die Frage, ob „die Subjektivismuskritik auf einer abstrakt-einseitigen Betrachtung des Pietismus beruht“.[5]

Schon in der Aufklärung, aber auch heute wird von Außenstehenden den Pietisten Intoleranz vorgeworfen, da diese nicht von ihrem Ausleben des Christentums gemäß ihrer spezifischen Bibelauslegung abrücken wollen und auch andere von dieser Lebensform überzeugen wollen.

Spannungen und Koalitionen

Manche Kirchen und Gruppen in pietistischer Tradition grenzen sich speziell von Pfingstgemeinden sowie charismatischen Kirchen und Gruppen ab. Die Grundlage hierfür bildet in den meisten Fällen nach wie vor die Berliner Erklärung von 1909.[6] Sie war die Reaktion auf eine Erweckung in Mülheim an der Ruhr 1905, mit der die Pfingstbewegung im deutschsprachigen Raum begann. Einige Auswüchse um die „Zungenrede“ und die Behauptung des Predigers Jonathan Paul, dass ein Christ sündlos leben könne, führten zu einer Spaltung in der Gemeinschaftsbewegung und zur Gründung des Mülheimer Verbandes.[7]

Inzwischen gibt es jedoch eine zunehmende Zusammenarbeit mit Pfingstgemeinden innerhalb der Evangelischen Allianz und bei evangelikal geprägten Aktionen wie ProChrist.

Darüber hinaus sind weite Teile des Pietismus heute weit stärker als in der Vergangenheit zu einer geistlichen Zusammenarbeit mit römisch-katholischen Christen und Gemeinden bereit.

Gruppen in pietistischer Tradition

Oberbegriffe:

Gruppen innerhalb der EKD bzw. einzelnen Landeskirchen:

In der Schweiz:

Freikirchen:

Pietistische Gemeinschaftssiedlungen

Herausragende Vertreter des Pietismus

Vom Pietismus beeinflusste Denker/Theologen

Vom Pietismus beeinflusste Politiker

Genannt seien exemplarisch

Literatur

  • Martin Brecht, Klaus Deppermann, Hartmut Lehmann, Ulrich Gäbler (Hrsg.): Geschichte des Pietismus Bd. 1–4. Göttingen 1993–2004. (Standardwerk)
  • Martin H. Jung: Pietismus. Frankfurt a.M. 2005 (fischer kompakt).
  • Johannes Wallmann: Der Pietismus. [2. Aufl.] Göttingen 2005 (UTB, 2598). (Rascher, umfassender Überblick über den klassischen Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts.)
  • Ecke Demandt: Nikolaus Graf von Zinzendorf, Von Herrnhut zum Herrnhaag 1700–1760, Schriften der Altenstädter Gesellschaft für Kultur und Geschichte e. V. Nr. 8, ISBN 978-3-9811398-2-2
  • Heinrich Schmid: Die Geschichte des Pietismus C.H. Beck'sche Buchhandlung, Nördlingen 1863,[8]
  • Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. (S. 359–386 umfassender Forschungsbericht [tabellar. Übersicht S. 384–386].)
  • Ders.: Pietism. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Edited by Wouter J. Hanegraaff, vol. II. Leiden, Boston: Brill 2005, S. 955–960.
  • Reinhard Breymayer: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding, Bd. 6. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 1191–1214. (Verhältnis Pietismus-Redekunst (Rhetorik).)
  • Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 18). Tübingen 2003. (Über den radikalen Pietismus in Württemberg)
  • Pietismus und Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (Mit der aktuellen Pietismus-Bibliographie. Hrsg. Udo Sträter.)
  • Eberhard Busch: Karl Barth und die Pietisten. Die Pietismuskritik des jüngeren Barth und ihre Erwiderung, München 1978. (Zur Auseinandersetzung von Karl Barth mit dem Pietismus.)
  • Jean Firges: Der Pietismus im deutschen Südwesten. Sonnenberg, 2005, ISBN 978-3-933264-43-5. (Über die kulturgeschichtlichen Prägungen der pietistischen Bevölkerung)
  • Klaus Bockmühl: Die Aktualität des Pietismus. Brunnen, 1985, ISBN 3-7655-9045-2
  • Lothar Gassmann: Pietismus wohin? Neubesinnung in der Krise der Kirche, Verlag für Reformatorische Erneuerung, Wuppertal 2004, ISBN 3-87857-325-1
  • Hans Schneider: Der fremde Arndt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
  • Claus Bernet: Das deutsche Quäkertum in der Frühen Neuzeit. Ein grundsätzlicher Beitrag zur Pietismusforschung, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 60, 2008, S. 214–234.
  • Reinhard Breymayer (Hrsg.): Luctuosa desideria. Wiedergefundene Gedenkschriften auf den Leipziger pietistischen Studenten Martin Born (1666 – 1689). Mit Gedichten von Joachim Feller, August Hermann Francke und anderen. Teil 1. Luctuosa desideria und Vetterliche und Freund-verbundene Letzte Pflicht. Text. Heck, Tübingen 2008, ISBN 978-3-924249-42-7. S. 24–25 findet sich das weltberühmte Sonett Fellers auf Martin Born im Faksimile des jahrhundertelang verschollenen Erstdrucks innerhalb der Sammelschrift Luctuosa desideria [>Gefühle schmerzlichen Vermissens<].
  • Claudia Wustmann: Die »begeisterten Mägde«. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig; Berlin 2008. ISBN 978-3-933816-38-2.
  • Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia: The Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske. Leiden: Brill, 2008. 330 Seiten.
  • Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675-1800, Leipzig 2001.

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Brecht, Martin, Art. Pietismus, in: TRE 26, Berlin/New York 1996, S.606–608
  2. Siehe http://www.bruedergemeinde-korntal.de
  3. Siehe http://www.betsaal.com
  4. Zitat aus dem Aufsatz: „Pietismus und evangelikale Bewegung: Persönliche Gotteserfahrung und freiwillige Hingabe““.
  5. Zitat aus dem Aufsatz: „Pietismus und evangelikale Bewegung: Persönliche Gotteserfahrung und freiwillige Hingabe““.
  6. Ernst Giese: Und flickten die Netze, Marburg 1976
  7. idea Spektrum 17/2007, S. 21–23: Warum einer Erweckung die Spaltung folgte
  8. http://books.google.com/books?id=DG8MAAAAIAAJ Online bei Google

Weblinks

 Wikisource: Pietismus – Quellen und Volltexte
 Commons: Pietism – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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