Ostindien

Ostindien

Ostindien. Es gibt Länder, die man nicht besuchen darf, will man seine Heimath lieb behalten; wo Himmel und Erde einen Zauber üben, der das Gemüth wie Sirenengesang bestrickt und uns, wie den Gefährten des Odysseus, die Erinnerung an das theure Vaterland raubt. Zu ihnen gehört Ostindien. Nicht wie im Norden trifft man hier jene Luftverschleierungen, die in unendlicher Mannichfaltigkeit die Gegenstände umweben, verdüstern oder gar verhüllen; man trifft nicht jene metallenen Farbentöne, jenes zwar zuweilen azurblaue, aber doch immer harte und erzartige Himmelsgewölbe, das unsere Gegenden zu einer Art sphärischer Gefängnisse macht. Hier dagegen findet das Auge keine andere Begrenzung, als die ihm Erde und Horizont setzen; man sieht sich im unbeschränktesten Besitz des Raumes, den man in allen seinen Theilen, in allen seinen Einzelnheiten genießen, welchen man ganz und innig durchdringen kann, stets umschmeichelt und fortgezogen von Strömungen eines belebenden ätherischen Lichtes, dessen sammetweiche und elastische Atome alle Umrisse der Gegenstände umspielen und verschmelzen, und mit einem blendenden Glanze, mit einer Art purpurrother Glorie umziehen. Und wenn dann die Lüfte sich regen und alle Wogen des Grüns erschauern, das bald um die Gipfel der Baume schwebt, bald in Schneckenlinien sich um die Hügel windet, bald wie runde, schwellende Brüste von Abhang zu Abhang caskadensörmig herabfällt – so fühlt man alle Poren von dem süßesten Dufte durchdrungen, als wenn die Lüfte die himmlischen Harems der Huris durchstrichen, und sich dort in einem Meere überirdischer Wollust berauscht hätten. – Dieß Zauberland, seit undenklichen Zeiten gepriesen und verherrlicht, hieß bis zum Ende des 15. Jahrh. Indien; als aber damals Columbus die Inseln im mexicanischen Meerbusen entdeckt und diese, in der irrigen Meinung, daß Asien sich in einer ungeheuern Ausdehnung nach Osten erstrecke und die gefundenen Länder zu ihm gehörten, Westindien genannt hatte, da verwandelte sich sein Name in Ostindien. Im weitesten Sinne des Wortes umfaßt es alle östlich vom Indus und südlich vom Himalaya und dessen östlicher Fortsetzung gelegenen Länder, welche im N. vom chines. Reiche, im S. und O. vom indischen Ocean begrenzt werden und mit Inbegriff aller Inseln zwischen diesem und Neuguinea 125,000 Quadrat M. enthalten. Ihrer natürlichen Gestalt nach zerfällt diese Ländermasse in zwei Halbinseln, Vorder- und Hinterindien, und die Inseln. Ersteres (65,000 Quadrat M.) auch Hindostan genannt, durch seine natürliche Beschaffenheit in drei Theile getrennt, zeigt im N. einen Kranz von Alpenländern, ein Tiefland in der Mitte und das 3–5000 F. hohe Dekan im S. Jene Alpenländer liegen am Fuße des Himalaya (s. d.), welcher hier seine riesigen Spitzen zeigt; die Ebenen, durch den Ganges (s. d.) reich bewässert, bilden eins der herrlichsten und fruchtbarsten Länder der Erde (s. Bengalen). England ist in Vorderindien die vorherrschende Macht, denn seine Besitzungen umfassen mit den Vasallenstaaten allein 53,000 Quadrat M. von 123 Mill. der sanften Hindu bewohnt, während den Franzosen (s. Pondichery), Portugiesen (s. Goa) und Dänen nur 83 Quadrat M. mit 250,000 Ew. gehören und die 4 freien indischen Staaten der Sikhs (s. Lahore), Maratten, das Reich Nepal und der Sindhistaat höchstens 12,000 Quadrat M. und 15 Mill. Ew. erreichen. – Hinterindien (40,000 Quadrat M., 41 Mill. Ew.) den südöstlichen Abfall von Asien bildend, gehört zu den unbekanntesten Ländern der Erde. Hohe, mit ewigem Schnee bedeckte Gebirge füllen den N., während zehn große Ströme das ebenfalls überaus üppige Ganze, meist vom N. nach S., durchschneiden und durch regelmäßige Ueberschwemmungen befruchten. England besitzt nur einen geringen Theil (1800 Quadrat M.), der größere besteht aus den Reichen Assam, Birma (s. Birmanen), Siam (s. d.), Anam (vergl. Cochinchina) und der Halbinsel Malacca (s. d.). – Eine ungeheuere Anzahl kleiner und großer Inseln, die fast wie Trümmer eines zerrissenen Welttheils erscheinen und Hinterindien mit Australien verbinden, enthält das indische Meer. Ihr Inneres ist meist mit hohen Waldgebirgen bedeckt, aus denen häufig Vulkane hervorragen; an Fruchtbarkeit geben sie aber dem Festlande nichts nach. Hier herrschen Engländer, Holländer, Spanier und unabhängige einheimische Fürsten. Ceylon (s. d.), die Gruppen der Lakediven, Malediven, Andamanen, Nikobaren, die Merguiinseln, Singapur (s. d.), Sumatra (s. d.), Java (s. d.), Borneo (s. d.), Celebes (s. d.), die kleinen Sundainseln, die Molukken (s. d.), die Kiling- und Suluinseln, die Philippinen (s. d.) und Karolinen (s. d.) müssen als die beträchtlichsten vorzugsweise genannt werden. – Ein Land von solcher Ausdehnung hat natürlich ein sehr verschiedenes Klima. In den Ebenen und Thälern des Südens ist es drückend heiß, die höheren Berggegenden genießen dagegen eine milde Luft und den Küsten bringen Seewinde angenehme Kühlung. Merkwürdigerweise gedeihen im N. jenseit der Himalayakette und nahe der Region des ewigen Winters 10,000 Fuß hoch noch Feigen, und auf 11,000 Fuß hohen Plateaus reist das schönste Getreide. Im Ganzen ist Ostindien, mit Ausnahme weniger Sumpfgegenden, sehr gesund, auch für den Europäer, der eine vorsichtige Lebensweise nicht aus den Augen setzt. Die Engländer behaupten zwar das Gegentheil und suchen in ihrem Nebellande sich wieder zu erholen; der Hauptgrund davon liegt aber darin, daß sie gewohnt sind, sehr viel Fleisch und überhaupt schwere Speisen und hitzige Getränke zu genießen, und dieß auch in diesem Tropenlande fortsetzen. Nicht aufzuzählen sind die Erzeugnisse, mit denen eine überaus reiche Natur dieß irdische Paradies gesegnet hat, denn es gedeihen neben allen Früchten der tropischen Zone auch die meisten europ. Früchte und Getreide. Haupthandelsartikel aber bilden Reis, Indigo, Baumwolle, alle Arten von Gewürzen, seines Holz, Zucker, Kasse, Tabak etc.; Hausthiere gibt es in Menge, von den wilden nennen wir nur den Königstiger, besonders in Vorderindien zu Hause, ferner Löwen, Leoparden, Hyänen, Nashorn, Büffel, wilde Esel, Elephanten (auch weiße), Affen, Pfauen, Papageien etc., eine Unzahl prachtvoll-gefiederter Vögel und viel Wild. Im heil. Ganges, wie im Indus, wohnt das fürchterliche Krokodil; gefährlich sind die häufigen Schlangen, obgleich indische Jongleurs nicht nur kleine Arten, sondern auch schreckliche Riesenschlangen zu allerlei Künsten abrichten. Was aber seit Jahrtausenden Ostindien zum Zielpunkt wilder Eroberer, Kaufleute und Glücksritter gemacht hat, ist vorzüglich der Reichthum an edlen Perlen, Steinen und Metallen. Neben den Diamanten von unschätzbarem Werthe, mit denen der Thron des Großmoguls zu Delhi ausgelegt war, verschwinden alle Kronjuwelen europ. Herrscher, alle Ausbeute der Gruben Brasiliens und des Urals. Dabei fehlen auch die unedlen Metalle nicht, ebensowenig Marmor, Salz und Steinkohlen. Ueber die indischen Shawls s. Caschmir. Neben Afghanen und andern muham. Völkern, Chinesen, Sikhs, Parsen, Armeniern, Malaien, Juden, Engländern, Franzosen, Portugiesen, Holländern und Europäern anderer Nationen und ihren mit indischen Müttern erzeugten Nachkommen, bilden die Hindu die Hauptbevölkerung des Festlandes. Sie rechnen ihren Ursprung auf Millionen von Jahren zurück, der, wenn man auch dieser fabelhaften Zeitrechnung keinen Glauben schenken will, doch jedenfalls sehr alt ist. Sanft von Charakter und zierlich gebaut, hellolivenfarbig, mit einer äußerst weichen, glänzenden Haut und seinen schwarzen Haaren, gewähren besonders ihre Frauen einen lieblichen Anblick. Deren Kleidung ist uralt, wie die ihr gleichende auf Bildnissen alter Göttinnen beweist. Sie besteht aus Beinkleidern und einer kurzen Weste mit Aermeln. Ein seiner Shawl windet sich um den Kopf, oft auch ein ähnlicher um den Leib zur Hervorhebung des Busens, welcher als Haupttheil weiblicher Schönheit bei ihnen gilt. Die Reichen schmücken Arme, Beine und Ohren mit Perlen und Edelsteinen. Das Haar wird mit wohlriechenden Oelen gesalbt, dann in ein Netz gewunden oder in Zöpfe geflochten; Witwen aber gehen mit geschornem Haupte. Der Mann kann mehrere Frauen haben, doch gilt nur eine als rechtmäßige und nur ihre Kinder erben. Ueber die hochzeitlichen Gebräuche der Hindu s. Hochzeit und Bajaderen. Die früher allgemein herrschende Sitte, Witwen mit dem Leichnam ihres Gatten zu verbrennen, hat durch die Bemühungen der Briten sehr abgenommen, findet aber im Eigennutze der Braminen noch eifrige Unterstützung. Diese sind die vornehmste Kaste, außerdem gibt es noch vier Hauptkasten, nämlich Tschetris, Waischis, Schuders und die unedle der Parias, welche alle wieder eine Menge Unterabtheilungen besitzen. Jeder Hauptkaste sind besondere Beschäftigungen angewiesen, die einen gelten als Priester, die andern als Krieger, Ackerbauer, Handwerker und die allgemein verachteten Parias als Knechte. Ueber die Religion der Hindu ist bereits im Artikel Mythologie gesprochen. Bedeutend wirkt diese Kasteneintheilung auf die Uebermacht einzelner Staaten; so besteht z. B. die Bevölkerung des einst so mächtigen Marattenstaates fast nur aus Tschetris (Kriegern). Auf Inseln existiren zwei Hauptstämme, negerartige Ureinwohner und Malaien; diese sind meist Muhamedaner und haben jene fast überall in das Innere zurückgedrängt. Unter den Europäern machen hier Engländer, Holländer und Spanier die Mehrzahl aus. Das Christenthum hat weder auf dem Festlande noch auf den Inseln bedeutende Fortschritte gemacht, was allerdings die ganz verkehrten Ansichten der bigotten und finstern protestantischen Missionaire größtentheils verschulden. – Ueber Indiens älteste Geschichte gibt es zwar bei den Hindu eine Menge Sagen, doch sind diese von den Braminen so ausgeschmückt, daß die darin enthaltene Wahrheit wohl nie klar ausgeschieden werden kann. Phönizier, Aegypter, Griechen, Karthager und Römer trieben indeß schon Handel dahin, ohne aber das Innere weiter zu untersuchen. Alexander's des Gr. Zug erleuchtete das Dunkel ebensowenig, denn er gelangte nicht bis zum Ganges. Muhamed's Nachfolger begannen im 11. Jahrh. auch Indien anzufallen; 1398 kam der wilde Tamerlan mit seinen Mongolen und eroberte bedeutende Provinzen. Sie legten den Grund zum Reiche des Großmoguls, welches zu Ende des 16. Jahrhunderts eine Größe von 70,000 Quadrat M. erreichte, und dessen prachtvolle, mit Schätzen überfüllte, Hauptstädte Delhi (s. d.) und Agra waren. Dieses Kaiserreich wurde im 18. Jahrh. immer schwächer und löste sich zuletzt gänzlich auf. Noch jetzt existirt in Delhi ein Großmogul, doch ist er ohne Gewalt und lebt von einer Pension der Engländer. Europa empfing bis zum Ende des 15. Jahrh. Indiens Waaren von Genua und Venedig, welche durch diesen Handel reich gewordenen Städte sie in Aegypten etc., also erst aus der zweiten Hand, bezogen. Portugals heldenmüthige Seefahrer umschifften 1498 das Vorgebirge der guten Hoffnung, und nun war die Bahn zum directen Handel der Europäer dahin gebrochen. Hundert Jahre später besaß Portugal schon viele Inseln und einen großen Theil des Küstenhandels; jetzt begannen die Niederländer ihnen entgegen zu treten und sich besonders auf den Inseln festzusetzen. Sie wetteiferten mit den Franzosen und Engländern um den Vorrang, den Letztere endlich errangen. Nach langen Kämpfen mit ihren Nebenbuhlern und den indischen Fürsten besitzt jetzt die engl. Ostindische Compagnie, eine Gesellschaft von Kaufleuten, unter Aufsicht der Krone und des Parlaments, den größten Theil des schönsten und fruchtbarsten Landes der Erde, ein Reich, das nur von China und Rußland und den vereinigten Staaten von Nordam. an Größe übertroffen wird, sie alle aber durch innern Reichthum und auch, mit Ausnahme China's, durch zahlreichere Bevölkerung weit überragt. Die Macht der Niederländer beschränkt sich auf einen Theil der durch ewige Revolutionen zerrütteten Inseln; die der andern europ. Nationen ist ganz unbedeutend.

S.


http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.

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